Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

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Therese Bichsel schreibt über Anna Seiler, welche die Berner Krankenpflege verändert hat. Die Autorin zeichnet ein beklemmendes Bild des Spätmittelalters.

Publiziert: 27.01.2022, 08:37Aktualisiert: 07.03.2022, 08:41

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Therese Bichsel: «Anna Seilerin – Stifterin des Inselspitals», Zytglogge-Verlag 2020, 300 Seiten, ca. 36 Franken

Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie an dieser Stelle: «Anna Seilerin» Folge 1 – 29.

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Eishockey-WM abgesagt. Fussball-EM abgesagt. Olympische Spiele abgesagt. Freizeitsport verboten. Die Sportwelt steht still. Was macht das mit uns? Lesen Sie in unser Tagebuch.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Tag 59: Mittwoch, 20. Mai

In Deutschland spielen sie schon wieder, die Premier League trainiert in Kleingruppen und Weissrussland tut, als sei nie etwas gewesen. Der Fussball kehrt allmählich zurück. Zumindest im Fernseher. Aber ein Stadion werde ich so schnell nicht mehr betreten.

In der App «Futbology» kann man die Fussballplätze und Stadien, die man besucht hat, vermerken. Ich werde ein wenig wehmütig und denke zurück.

Im Espenmoos war ich Fan. Beim ersten Spiel hatte mein Zwillingsbruder Bauchweh und musste sich übergeben. Irgendwann bekam ich Bauchweh, wenn ich unter der Woche nicht hindurfte.

Im Gründenmoos schlug ich früher Flanken hinter das Tor.

Auf Schalke hatte ich einen schlimmen Kater.

Das Craven Cottage ist das schönste Stadion überhaupt. Die Fassade ist aus Backstein, in einer Ecke steht ein altes Jagdhaus. Einige Sitze sind hölzern.

In Leicester bebte selbst die Haupttribüne.

An der Vicarage Road spielten sie Coldplays «Yellow» nach dem Spiel.

Im Estadio Manuel Martinez Valero warben sie für die Saisonkarte von vor drei Jahren. Die Sitze waren bleich von der Sonne. Elche gewann nicht und stieg ab.

In Kaliningrad knisterte es wie selten zuvor.

Vor dem Valley gab es ein Pub für Auswärtsfans. Ein Pub gab es auch vor der Loftus Road. Ein paar ältere Männer sahen sich ein Endspiel im FA-Cup aus den Achtzigern an.

Im Volksparkstadion spielten sie die Tormusik, als der HSV zum Einlaufen den Rasen betrat. Sie hatten halt wenig zu feiern.

In Neuenburg liessen wir es uns gutgehen. Wir tranken vier Flaschen Rosé und feierten den Punkt wie ein Sieg.

In Madrid sah ich den besten Fussball von den besten Fussballern.

Am Böllenfalltor ging ich in einem Container auf die Toilette.

Tag 58: Dienstag, 19. Mai

Liebes Tagebuch. Heute war ich wandern.

Ich stand frühmorgens auf. In der Küche strich ich Butter auf ein Brötchen und belegte es mit Salami. Ich sagte den anderen stolz: «Ä Ihklemmts.» Ich verstaute die Sport-Fresh-Bonbons in einer der vielen Taschen meiner Dreiviertelhose. Ich stopfte den «Fasi» in den Rucksack und das Rivella auch.

Beim Parkplatz in Wasserauen zog ich die Wanderschuhe an. Gestern Abend lief ich die Schuhe ein als müsste ich heute erstmals in die Rekrutenschule einrücken. Dann liefen wir los. Entgegenkommende grüsste ich. Ich sagte «Grüezi» und «Ä schös Tägli» und meinte es so. Die anderen fragten, wie das neue, eng geschnittene und schweissabsorbierende T-Shirt sitze. «Und d Hosä? Isch sie bequem?» Ich sagte: «Da Züg isch scho cheibe gäbig.»

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Ich lief um den Seealpsee und dann hoch zum Äscher.

Bild: Gian Ehrenzeller / KEYSTONE

Ich fühlte mich wohl in der Funktionskleidung. Lag ich jahrelang falsch? Oder bin ich jemand geworden, der ich nie sein wollte? Oder wurde ich einfach älter?

Wir liefen um den Seealpsee und kehrten im Berggasthaus Forelle ein. Ich bestellte Spätzli und Rivella. Ich schäkerte mit der Bedienung und gab wenig Trinkgeld. Wir spielten Uno und «Arschlöchlä». Irgendwann gingen wir weiter. Hoch, zum Äscher. Mehrmals dachte ich mir, dass es gut war, Wanderschuhe gekauft zu haben.

Am Abend steckte ich die Kleider in die Waschmaschine. Es ist schon gut so.

Tag 57: Montag, 18. Mai

Liebes Tagebuch. Heute war ich einkaufen.

Ich kaufte Wanderschuhe, weil ich diesen Sommer nicht verreisen werde. Ich habe kein Geld dafür. Und sowieso: Corona. Ich habe mir vorgenommen, die Schweiz zu erkunden. Ich will im Caumasee schwimmen und das Matterhorn sehen. Aber ich wollte gestern auch um acht Uhr aufstehen und schlief dann bis halb elf.

Ich traute mir nicht. Deshalb kaufte ich mir noch mehr. Sachen, die verpflichten. Ich kaufte mir diese seltsamen Erwachsenenkleider. Faserpelz, Dreiviertelhosen und farbige T-Shirts, die eng geschnitten sind und den Schweiss absorbieren. Bis vor kurzem verachtete Menschen, die solche Kleider tragen. Ich dachte, es gebe keinen Grund, solche Kleider anzuziehen, wenn man nicht gerade zweitausend Höhenmeter zu bewältigen hat.

«Funktionskleidung», sagt man dieser Tracht von Bünzlis und Spiessern. Funktionskleidung. Das ist Stoff, der nur funktioniert, aber nicht lebt. Jede gute Geschichte ausgewaschen nach dem nächsten Schonwaschgang.

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Ich habe mir Wanderschuhe gekauft.

Bild: Rahel Meier / SZ

Ich fürchtete mich vor den Dreiviertelhosen, die diese Leute «lässig» finden. Leute, die ihre Nachbarn zum Abendessen einladen, um zu erzählen, wie super der neue Grill und wie toll die Ausbildung des Sohnes sei. Ja, wer solche Hosen anzog, hatte doch die meisten Fragen in seinem Leben schon beantwortet. Der zweifelte und hoffte nicht mehr. Der hatte nichts mehr zu verlieren und schon gar nichts mehr zu gewinnen. Der fragte sich nur noch, ob man nicht noch ein leichtes Jäckli hätte mitnehmen sollen. «Wär cheibe gäbig gsi.»

Ich fürchtete mich vor der emotionalen und modischen Selbstaufgabe von Dreiviertelhosenmenschen.

Morgen gehe ich wandern. Ich werde Dreiviertelhosen tragen. Ich bin gespannt, was sie mit mir machen.

Tag 55: Samstag, 16. Mai

Liebes Tagebuch. Heute kehrte der Fussball zurück.

Ich setze mich um dreizehn Uhr aufs Sofa und schalte den Fernseher ein. Die zweimonatige, nein, die ewige Fussballpause endet mit dem Spiel zwischen Jahn Regensburg und Holstein Kiel. Die Ansprüche sind gesunken. Überdies gehöre ich zu den hoffentlich wenigen Menschen, die sich lieber mit der zweiten Bundesliga beschäftigen, anstatt mit mir selbst.

Weil keine Zuschauer im Stadion sind, bin ich allein mit dem Kommentator. Mir ist, als spreche er öfter als üblich. Als sei da sonst dieses peinliche Schweigen zwischen zwei Menschen, die sich zu viel oder zu wenig bedeuten. Manchmal höre ich, wie Spieler und Trainer miteinander reden. Der Geräuschpegel erinnert mich ans Grümpeli. Die wenigen Zuschauer sitzen oder stehen oder tanzen längst im Festzelt. Und nach dem fünften Bier ist das Selbstvertrauen gewisser Spieler derart kolossal, dass sich einige erdreisten, in diesem sportlich völlig bedeutungslosen Turnier leidenschaftlich Anweisungen – gopf, spiel doch ab! – zu geben. Ich nehme mich da nicht raus.

Um halb vier beginnt die Bundesligakonferenz. Eigentlich sässe ich jetzt mit meinen Freunden im Rockstory, einer Bar in St.Gallen. Wir sprächen über die Arbeit und das Leben, über das, was war, und das, was kommen könnte. Ich würde die Aufstellungen studieren und meine Tipps ein letztes Mal ändern. Ich stände auf, um eine Runde zu bestellen. Und dann würde ich eine Kommentatorenstimme und tausende Kehlen sprechen und singen hören.

Heute ist es ein wenig anders. Ich sitze allein, vielleicht sogar einsam im Wohnzimmer und höre nur die Kommentatorenstimme. Einundachtzigtausend Menschen sind alle zwei Wochen im Dortmunder Stadion. Jetzt sind es gut zweihundert. Fussballer, Trainer, Physiotherapeuten, Pressesprecher, Journalisten und Funktionäre. Sie sehen ein gutes Spiel, aber kein schönes. Fussball ist ein Spiel, das auf die Zuschauer reagiert. Und umgekehrt. Ohne die Ah’s und Oh’s, ohne Pfeifkonzert und Torschrei ist der Fussball etwas, das die zweiundzwanzig Menschen auf dem Spielfeld bewegt, aber keine eindundachtzigtausend.

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In Dortmund waren keine einundachtzigtausend Menschen im Stadion.

Bild: Martin Meissner / Pool / EPA

Gegen achtzehn Uhr kommt die Pizza, die ich bestellt hatte. Sky zeigt Werbung. Sechs verschiedene Sportwettenanbieter buhlen innerhalb einer Werbepause um meine Gunst. Um halb sieben spielt Frankfurt gegen Gladbach. Ich sitze nun seit fünf Stunden vor dem Fernseher. Und fühle eine unangenehme Einsamkeit. Ich bin allein mit dem Kommentator. Die Zuschauer waren immer auch ein wenig die Vergewisserung, dass da etwas Grosses passiert. Etwas, das Menschen bewegt. Ich habe kaum einmal bereut, ein Fussballspiel gesehen zu haben. Immer hatte ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Daran zweifle ich heute.

Doch es gibt auch die schönen Augenblicke. In der zweiten Halbzeit wird der Gladbacher Stürmer Alassane Pléa am linken Strafraumeck angespielt. Pléa geht ein paar Meter. Dann öffnet sich ein Zeitfenster. Ein Sekundenbruchteil, eine Möglichkeiten, weil ein Verteidiger zu spät in den Zweikampf geht. Pléa sieht diese Möglichkeit und nimmt sie wahr. Er schiesst. Der Ball klatscht an den langen Pfosten. Guter Fussball.

Ich stelle fest, dass mich Resultate und Tabelle nicht interessieren. Wahrscheinlich war der Fussball zu lange weg. Ich muss mir erst bewusstwerden, dass das nicht die erste Runde ist, sondern der sechsundzwanzigste Spieltag. Vielleicht gelingt das morgen.

Tag 54: Freitag, 15. Mai

Liebes Tagebuch. Morgen geht die Bundesliga weiter. Auf dem Sender mit dem vielversprechenden Namen «Sky Sport News HD» sehe ich Reporter, die vor leeren Stadien stehen. Stadien, die auch morgen um halb vier leer sein werden. Sie erzählen von Startaufstellungen, als sei nie etwas gewesen. Ich höre, dass Marco Reus wegen einer Muskelverletzung ausfällt. Einer von Werder Bremen darf nicht mitspielen, weil jemand aus seinem näheren Umfeld positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Es gibt einen Countdown, wenige Meinungen von Experten und viele von Menschen, die sich für Experten halten. Auf «Sky Sport News HD» wird einem vermittelt, dass ganz Deutschland, ach was, die ganze Welt, die Bundesliga herbeisehnt.

Ich habe ein Sky-Abo gelöst und werde mir die Spiele ansehen. Weil ich beruflich verpflichtet bin. Ich bin auch ein wenig neugierig, das gebe ich zu. Aber da ist keine Vorfreude wie jeweils am Ende der Sommerpause. Keine Ungeduld, kein Wetten unter Freunden, kein Fachsimpeln.

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Die Stadien werden leer sein.

Bild: Fabian Strauch / DPA

Ich bin gespannt, was der morgige Tag mit mir macht. Wenn man dem Fussball die Zuschauer nimmt, bleibt nicht sehr viel. Als ich zwölf Jahre alt war, spielte der FC St.Gallen an einem Dienstagabend gegen GC. Obschon ich eine Saisonkarte im Sektor Grün besass, durfte ich nicht ins Espenmoos. Ich hatte am nächsten Morgen Schule und meine schlechten Noten rechtfertigten keine Ausnahme. Vor dem Einschlafen stellte ich mir vor, im Stadion zu stehen und den Lärm zu hören. Den Torschrei.

«Jaaaaaaaaaaaaaa!» Wie Bierspritzer durch die Luft fliegen und Menschen über- und untereinander liegen. Ich stellte mir nicht den Torschuss vor, sondern den Torschrei. Im Leben eines Fussballfans gibt es kaum etwas Schöneres als den Torschrei.

«Jaaaaaaaaaaaaaa!» Man hört ihn sogar im Fernseher. Es sind die Zuschauer, die den Fussball gross machen. Weil sie die Gefühle auf dem Platz zehntausendfach multiplizieren. Grosse Spiele sind gross, weil sie viele Jaaaaaaaaaaaaaa’s und viele Neeeeeeeeeeeeeiiiii’s haben. Viele Ah’s und Oh’s. Sie wiegen hin und her wie unruhiges Gewässer. Die Bundesliga ist ein Schiff ohne Gewässer. Sie wird nicht getragen.

Ob sie strandet? Mal sehen.

Mein allerliebstes Tagebuch, ich frage mich auch: War es das mit uns?

Tag 52: Mittwoch, 13. Mai

Liebes Tagebuch. Im Eishockey gibt es den Brauch, sich nicht mehr zu rasieren, bis man im Playoff ausgeschieden ist. Playoffbart nennt sich diese Gesichtsbehaarung. In den Finalspielen treffen dann bärtige Spitzenathleten aufeinander.

Auch ich habe mich seit Wochen nicht mehr rasiert. Wenn man so will, habe ich nun einen Coronabart. Erst war ich zu faul, um mich zu rasieren. Ich sass sowieso nur zu Hause. Ich duschte weniger und trug überdies nur Trainerhosen. Meine Selbstachtung hatte sich, naja, verändert. Und so liess ich meine wenigen Barthaare spriessen.

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Joe Thorntons Playoffbart.

Bild: Kostas Lymperopoulos/Freshfocus / Zuma/Cal Sport Media

Inzwischen finde ich aber Gefallen daran. Die Härchen an den Wangen sind so lang, dass es aussieht, als hätte ich dichten Bartwuchs. Dabei ist das nicht viel mehr als ausser Kontrolle geratener Flaum. Würde ich meinen «Bart» vollständig abrasieren, sähe ich aus wie ein Zwölfjähriger mit Falten über den Augen. Vom ständigen Stirnrunzeln. Jesses, Menschen. Doch jetzt fühle ich mich wie ein Erwachsener. Manchmal fahre ich mit Daumen und Zeigefinger über die linke und rechte Wange wie ein alter Philosoph.

Meine Freundin hat gefragt, wann ich mich endlich rasieren würde. Ich sagte: «Wenn wieder Fussball läuft.»

Tag 51: Dienstag, 12. Mai

Liebes Tagebuch. Heute räumte ich mein Zimmer aus und auf. Mieses Wetter, Coronalethargie. Hilft ja nichts. Ich stieg auf den Bürostuhl und griff nach einem dicken schwarzen Ordner über dem Kleiderschrank. Ich blies den Staub von der Oberfläche und öffnete ihn. Basketballkärtchen. Neun pro Seite, geschützt von einer durchsichtigen Folie. Die Ordner rochen wie früher. Nach Karton und Plastik. Nach den Staaten. Unbeschwerte Jahre.

Als ich klein war, reisten wir ein paar Mal in die USA. Nach Florida, um genau zu sein. Everglades und die Sawgrass Mills Shopping Mall, Red Lobster und Walmart. Basketballkärtchen. Ich sass stundenlang allein im Hotelzimmer, packte die Kärtchen aus und sortierte sie.

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Sogar Michael Jordan ist in meiner Sammlung vertreten.

Bild: Renato Schatz

Ich weiss nicht, nach welchen Kriterien ich die Kärtchen sortiert hatte. Gheorghe Muresan ist neben Charles Barkley, Chris Webber unter Scottie Pippen. Und Grant Hill auf der ersten und der letzten Seite.

Doch die Kärtchen machen etwas mit mir. Ich mag die alten Logos und Shirts. Das Pferd der Detroit Pistons und die violetten Trikots der Raptors. Ich hatte eines der Sixers. Allen Iverson, Nummer drei. Zweite Playoffrunde 2001. Sieben Spiele gegen Toronto mit dem spektakulären Vince Carter. Ich erinnere mich.

«The Last Dance», diese wunderbare Dokumentation über die Chicago Bulls und Michael Jordan, gibt mir ein ähnliches Gefühl wie die Videos von den Sixers im Playoff 2001, wie die Kärtchen im verstaubten Ordner. Früher war ich diesem Lebensgefühl nah, wenn ich mit meinen Brüdern «NBA live 2001» auf der PlayStation 2 spielte oder «Der Prinz von Bel-Air» im Fernseher lief. Jetzt habe ich es zurück.

Tag 50: Montag, 11. Mai

Liebes Tagebuch. Ich schreibe seit 50 Tagen über mein Leben ohne Sport.

Ich weiss nicht, was von diesen 50 Tagen bleiben wird. Sie ähnelten sich. Ich habe oft Brändi Dog gespielt. Sehr oft. Ich habe oft verloren. Sehr oft. Ich ging laufen und einmal sogar spazieren. Ich war viel am Handy. Viel zu viel. Ich habe Michael Jordan kennengelernt. Und ein bisschen auch lieben. Ich habe auf der PlayStation und am Töggelikasten gespielt. Ich habe oft abgewaschen. Ich stand früh auf und ging früh schlafen. Ich habe die kleine Schwester meiner Freundin umgegrätscht. Jesses. Ich fuhr mit dem Velo über die Alpe d'Alterszentrum und dann in die Migros. Irgendwann sprach ich jedes Wort wie ein englischer Fussballkommentator aus. «Ha bitz es Hüngerleeeeeey.» Ich trage meinen Kontrollverlust mit Fassung.

Die meiste Zeit verbrachte ich in meinem Zimmer. Vielleicht war es ein wenig, als sei ich krank gewesen. Als hatte ich eine Grippe. Ich wollte wieder in die Schule und ins Training. Doch meine Mutter sagte, ich solle noch einen Tag zu Hause bleiben. «Zur Sicherheit», sagte sie dann sanft. Nun bin ich seit 50 Tagen zu Hause. Genesen, aber geschwächt. Und zu Hause.

Das sind die Bilder, die ich im Kopf habe.

Ich war in diesen 50 Tagen seltener unglücklich. Aber auch seltener richtig glücklich. Die Tage auf dem Platz, vor dem Fernseher oder im Stadion sind beschissen und wunderschön. Aber nie gleich.

Bisher geht es ohne Sport. Aber es geht besser mit.

Tag 49: Sonntag, 10. Mai

Liebes Tagebuch. Ich denke mir, dass jede Zeit seinen Hit hat. Und jedes Fussballturnier seine Hymne. Im Sommer 1990 sangen sie «Un Estate Italiana». Dieses wunderbare Lied, das noch unberührt war vom schrecklichen Eurodance der Neunziger. Ich kann diesen speziellen Sommer erahnen, wenn ich höre, wie Zeitzeugen zu Gianna Nannini mitsingen. Wenn ich «Wavin’ Flag» von Knaan höre, ist es warm, es schmeckt nach dem ersten Schützengartenbier, das ich damals noch scheusslich fand. Und ich sehe Gelson Fernandes, der gegen Spanien traf und jubelte wie Gerd Müller. Das war 2010.

Im Sommer 2020 findet keine Welt- oder Europameisterschaft statt. Kein Spiel im Westen der Stadt mit tausenden anderen Menschen. Sogar das Grümpeli wurde abgesagt.

Im Sommer 2020 höre ich «Eenie Meenie» von Justin Bieber und Sean Kingston. Und «Escape» von Enrique Iglesias. Diese Lieder sind der Soundtrack meiner Coronakrise. Sie sind meine Zeitkapsel. In ein paar Jahren, wenn diese klebrigen Popsongs mal wieder im Radio laufen, höre ich das Klacken der Brändi-Dog-Murmeln, rieche Kaffee und Waschmittel und sehe vertraute Gesichter, weit weg, im Bildschirm.

Ich denke mir, dass diese Zeit vielleicht auch gar keine anderen Lieder verdient hat.

Tag 48: Samstag, 9. Mai

Liebes Tagebuch. Heute war Sommer.

Am frühen Abend gingen wir rüber, zur Wiese am See. Wir tranken Bier und spielten Brändi Dog. Was junge Erwachsene an einem Samstagabend im Jahr 2020 eben so tun. Dann wurde der Tischtennistisch frei und wir spielten Rundlauf. Irgendwann kam ein Junge zu uns und fragte, ob er mitspielen dürfe. Wir gaben ihm einen Schläger. Er sagte, er heisse Marco und sei zehn Jahre alt. Drei Minuten später hatte er mich im Final drei zu null besiegt. Wir spielten so lange, bis ich Marco schlug und er nach Hause musste.

Als sich die Sonne langsam hinter dem Uetliberg versteckte, spielten wir Fussball. Meine Freundin und ich bildeten das eine Team, ihre Schwester und deren Kollegin das andere. Ich dribbelte und schoss wie ein junger Gott. Ich sah mich die Bälle an- und mitnehmen und wurde an den jungen Zinédine Zidane erinnert. Einmal erbarmte ich mich den Unbegabten und passte den Ball zu meiner Freundin. Sie verlor ihn. Also grätschte ich die kleine Schwester meiner Freundin um.

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Meine Grätsche hätte einen Platzverweis zur Folge gehabt.

Bild: Philipp Schmidli / PHILIPP SCHMIDLI | Fotografie

Ich weiss nicht, was es war. Vielleicht der Übermut des erstmaligen Sieges gegen Marco. Vielleicht dieser jugendliche Ehrgeiz, die eigene Freundin überzeugen zu wollen. Oder war es die Rückkehr vermeintlich verloren gegangener Routinen? Schliesslich war ich im Fussballverein jahrelang Aussenverteidiger. Die fehlende Geschwindigkeit, überhaupt, das fehlende Talent, kompensierte ich dann und wann mit einer Grätsche. Oftmals traf ich viel Bein und wenig Ball. Bei der kleinen Schwester meiner Freundin verhielt es sich glücklicherweise andersherum. Überdies war sie wohl zu angeheitert, um sich der Tragweite meines haarsträubenden Tacklings bewusst zu werden.

Dann kam der Regen. Er roch nach Sommer. Wir gingen hinein.

Vor dem Einschlafen scrollte ich durch Twitter und sah, dass zwei Spieler von Dynamo Dresden positiv getestet wurden. Mannschaft und Trainerstab müssen sich in eine 14-tägige Quarantäne begeben. Der Tabellenletzte der 2. Bundesliga wird mindestens die ersten beiden Spieltage verpassen. Vielleicht war es das.

Tag 47: Freitag, 8. Mai

Liebes Tagebuch. Heute bin ich mit dem Zug nach St.Gallen gefahren. Nach Hause, um «ä paar Sache» zu holen. Im Stillen hoffte ich, ein paar Stunden mit Mila verbringen zu können.

Es besteht eine gewisse emotionale Abhängigkeit. Beidseitig. Am Morgen wartete sie jeweils vor meinem Zimmer. Wenn ich dann Richtung Küche schwankte, lief sie mir nach. Ich stand vor der Kaffeemaschine, suchte Kapsel und Zucker. Und auch ein bisschen nach dem Sinn des anstehenden Tages. Mila drückte ihren Kopf gegen meine zittrigen Beine, schnurrte und sah mich erwartungsfroh an. Bis jetzt hat mich nie eine Frau so angesehen wie es Mila tat.

Doch unsere Beziehung ist auch professioneller Natur.

Oft machten wir Lauftraining. Ich warf Gummibälle den Flur entlang. Manchmal hatte sie Mühe auf der rutschigen Unterlage. Dann trainierten wir die Sprungkraft. Ich liess die Spitze eines Schnürsenkels einen halben Meter über ihrem Kopf kreisen. Sie griff mit der linken Pfote über und gab dem Schnürsenkel damit die entscheidende Richtungsänderung.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Mila ist der Gianluigi Buffon der Katzen.

Bild: Juanjo Martin / EPA EFE

Es ist Mittag und ich bin zu Hause. Mila lässt sich nicht blicken. Ich kenne ihre Spielchen, weiss, dass sie nachtragend ist. Sie straft meine seltene Anwesenheit mit Aufmerksamkeitsentzug. Sie tut, als sei ich nicht da. Nach drei Stunden inspiziere ich den Kühlschrank ein fünftes Mal. Und ziehe zum fünften Mal enttäuscht von dannen. Nur dieses Mal nicht allein: Mila läuft mir nach. Ich streichle sie, was gleichbedeutend ist mit dem Waffenstillstand. Ich werfe Bälle und sie jagt der Spitze eines Schnürsenkels nach.

Vor zwei Jahren ist Mio, eine dicke Perserkatze, verstorben. Eine Katze alter Prägung. Autoritärer Führungsstil. Doch seit die Schreckensherrschaft Mios vorbei ist, ist Mila die Nummer eins im Katzentörchen. Weil sie 15-jährig ist, neigt sich auch ihre Karriere dem Ende zu. Sie ist der Gianluigi Buffon der Katzen, trägt weiss und schwarz. Wie die Bianconeri.

Tag 46: Donnerstag, 7. Mai

Liebes Tagebuch. Die Bundesliga geht weiter. Die Super League vielleicht auch irgendwann. Einige finden das doof, einige toll. Andere sind unentschlossen. Und wiederum andere werden gar nicht erst gefragt. Eine Typisierung.

Die Kontroversen: Sie sind grundsätzlich anderer Meinung. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Lust an der Auseinandersetzung. Die Kontroversen ahnen, dass die diese Lust einer gewissen Verbitterung entstammt. Würden das aber niemals bestätigen, weil sie dann, naja, gleicher Meinung wären. Schauplatz ihrer Kämpfe sind für gewöhnlich Kommentarspalte und Stammtisch. Da Letzterer derzeit geschlossen hat, toben sie sich gegenwärtig vor allem in den sozialen Medien aus. Vorzugsweise: Facebook. Lieblingsbegründung: Früher war alles besser. Mit jeder Faser ihres Körpers Skeptiker. Sind für die Wiederaufnahme des Profisports und dessen Wettkämpfe, wenn alle dagegen sind.

Die Kulturkontroversen: Gehören zur Familie der Kontroversen. Vertreten ebenfalls stets die gegenteilige Meinung. Allerdings unterscheiden sich die Beweggründe. Sie gefallen sich in der Rolle des Querdenkers, haben aber eigentlich keinen Schimmer, was Sache ist. Oft Studenten. «Fans» von Freiburg, St. Pauli oder Union Berlin. Wobei: Die Spieler kennen sie nicht. Aber dieser, ähm, Streit, nicht, nein, Streich, genau, der ist cool.

Die Konsumenten: Können sich vor allem für Champions-League-Spiele begeistern. Bundesliga ist auch okay, aber nur die Zusammenfassungen auf DAZN. Finden Rasenballsport Leipzig «easy». Standen noch nie in einer Kurve. Standen überhaupt noch nie bei einem Fussballspiel. Feierten die Stimmung in der Allianz Arena genauso ab wie jene im Emirates Stadium. Instagram-Bilder und volle Fanshop-Taschen sind Pflicht. Bis zur U14 bei der Juniorenauswahl eines mittelmässigen Super-League-Teams gespielt, dann für zu schlecht befunden. Prahlen in der Bürocafeteria, dass sie mit XY zusammengespielt haben. Gehen in Clubs, nicht in Pubs. Ziehen Wodka (Belvedere) dem Bier vor. Mögen vor allem den Event, können allerdings auch mit Fussball etwas anfangen. Aber: Can they do it on a cold rainy night in Stoke? Sind für die Wiederaufnahme der Fussballligen.

Die Unentschlossenen: Hätten eigentlich moralische Ansprüche, doch die letzten Wochen gingen nicht spurlos an ihnen vorbei. Sind abgestumpft von all den Breaking News, Kommentaren und Studien. Sehen in einer ruhigen Minute das grosse Ganze, finden es aber halt doch ziemlich geil, wenn wieder gespielt werden würde. Haben Verständnis für allen und jeden, weil sie sowohl allerlei Abgründe als auch Empathie in sich tragen. Äussern ihre Meinung, wenn sie denn eine haben, meist im kleinen Kreis. Sofern sie dort Bestätigung erfahren, lassen sie auch andere Menschen teilhaben. Sind hauptsächlich daran interessiert, niemanden zu verärgern. Kurz: Sie sehen sich die Spiele an. Aber irgendetwas stinkt. Es fühlt sich nicht gut an.

Die Besonnenen: Sind sich ihrer Bedeutungslosigkeit bewusst. Und insgeheim froh, müssen sie nicht entscheiden. Und überhaupt: Es gibt Wichtigeres als den Fussball. Familie und Arbeit. Ein gutes Buch vielleicht. Trotzdem: Sportschau am Samstagabend muss sein. Zerren sonntags die Kinder mit ins Stadion. «Sie hend gfroget», sagen sie entschuldigend. Verklären die Vergangenheit, hegen aber – im Gegensatz zu den Kontroversen – keinen Groll auf die Gegenwart. Werden sich die Spiele im Fernsehen anschauen, wissen aber um die Fragilität der Lage, die sie im Austausch mit nahestehenden Menschen mit klugen Worten erklären. Aber erst nach dem zweiten Glas Rotwein.

Die Rebellen: Seit klein auf jedes zweite Wochenende im Stadion. Mit dem ersten Bier auch die ersten Auswärtsfahrten. Lehnen den Kommerz ab und so auch die vor allem wirtschaftlich motivierte Rückkehr der Bundesliga. Aus moralischen Gründen. Und weil es ein bisschen geil ist, zu rebellieren. Haben schon Ab- und Aufstiege erlebt. Standen dutzende Male im verregneten Brügglifeld oder Cornaredo. Gehen längst nicht mehr wegen des Fussballs ins Stadion. Entsprechend Gegner von Geisterspielen. Womit sich die Diskussion erledigt hat.

Die Ungehörten: Die Fussballspieler. Ihre Meinung ist nur in seltensten Fällen überliefert. Aber im Grunde ist ihr Urteil nicht relevant, da sie nur Randnotiz sind bei Fussballspielen.

Tag 45: Mittwoch, 6. Mai

Liebes Tagebuch. Es geht wieder los. Die Bundesliga nimmt ihren Betrieb wieder auf. Das beschloss die deutsche Politik heute Mittag. Am Abend sickerte durch, dass bereits in eineinhalb Wochen wieder gespielt wird.

Nun ja. Ich frage mich, was dieser Entscheid mit mir macht.

Zunächst einmal übe ich mich in Diplomatie. Denn die Familie meiner Freundin verbindet mich untrennbar mit dem Fussball. Und den Fussball mit mir. So werde ich bisweilen vorwurfsvoll mit der Gehaltsabrechnung von Neymar konfrontiert. Als sei ich dafür verantwortlich, dass der Brasilianer nach zwei Tagen in der Massage schon ausgesorgt hat.

Deshalb verwende ich beim Znacht nichtssagende Begriffe und den Konjunktiv. Ich sage vage Sätze wie: «Da Ganze isch e Problematik, wo sich no entwickle chönnt.» Mir ist völlig unklar, was ich mit dem «Ganzen» oder der «Problematik» meine. Den anwesenden Personen dürfte ebenfalls schleierhaft sein, was ich sagen möchte. Zunächst fragt niemand nach, weil sich die Familie meiner Freundin eigentlich einen Dreck um Fussball schert. Irgendwann will aber jemand wissen, weshalb «Millionäre Fussball spielen» dürfen, die «Normalsterblichen aber zwei Meter Abstand halten» sollen. Ich bin kurz davor, mich in Rage zu reden. Weil viele Fussballer weit weg sind von einem Millionengehalt. Gerade in der Schweiz. Und weil auch der Fussball das Recht hat, für seine Interessen einzustehen. Da ich aber weiterhin hier Znacht essen will, erzähle ich von irgendwelchen Verträgen und mutmasslichen Klagen. Ich beantworte so ziemlich alles. Ausser der ursprünglichen Frage. Irgendwann sind alle gelangweilt und wir wechseln das Thema.

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In der Bundesliga rollt der Ball bald wieder. Aber ohne Zuschauer auf den Rängen.

Bild: Roland Weihrauch / DPA

Nach dem Essen schreibe ich meinem besten Freund: «Eigentli findis scho ziemli geil, dass wieder ahfangt.» Schliesslich informiere ich mich über ein Sky-Abo. Mir ist nicht danach, über Sinn und Unsinn zu befinden. Nach Konzepten und Spekulationen. Ich bin müde davon.

Aber ich mag die Vorstellung, wie Milliarden verzweifelter Fussballfans am 15. Mai gierig das Spiel zwischen Fortuna Düsseldorf und dem SC Paderborn sehen. Gemäss ursprünglichem Spielplan startet die Bundesliga am Freitagabend mit dieser Paarung.

Vor dem Einschlafen denke ich mir: Liebes Tagebuch, du bist bald Geschichte.

Tag 44: Dienstag, 5. Mai

Liebes Tagebuch. Heute Mittag haben sie den Töggelikasten abgeholt. Ich regte an, am Morgen eine finale Best-of-25-Serie zu spielen. Doch die Modusänderung wurde mittels schriftlicher Abstimmung abgelehnt.

Überdies regnete es. Und so plätscherte der Tag dahin. Es war wie an einem Sonntag nach dem Ausgang. Ich quälte mich. Ich zweifelte. Ich ging alle fünf Minuten zum Kühlschrank. In der Hoffnung, irgendeine Leckerei übersehen zu haben. Auch heute quälte ich mich. Ich zweifelte. Ich ging alle fünf Minuten ins Internet. In der Hoffnung, irgendeine Fussballnachricht übersehen zu haben.

Zeit meines Lebens war ich liebestrunken ob all dieser Fussballspiele. Jetzt bin ich liebesverkatert. Plötzlich ist der Fussball weg. Ich war ein Süchtiger. Und nun der kalte Entzug.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich bin auf Entzug.

Bild: Andy Mueller/Freshfocus

Ich zittere noch nicht. Aber ich bin gereizt. Beim Znacht rede ich zwar mit. Noch obsiegt meine Harmoniebedürftigkeit. Allerdings sind meine Wortmeldungen an Harmlosigkeit nicht zu überbieten. Ich vermeide das Kontroverse, um das Gespräch möglichst schnell zu beenden. Um an einen Ort zu flüchten, an dem nicht über Wirtschaft und Politik, über Topmodels und Bachelorette gesprochen wird. Ich nicke das Lustige genauso ab wie das Traurige. Ich bin hier und doch nicht da. Und ich stelle fest: Es ist bemerkenswert, wie trostlos mein Leben ohne Fussball ist.

Einmal stahl ich mich davon, kramte hastig den Computer aus dem Rucksack, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und sah mir den Champions-League-Final 2005 an. Ich war befriedigt und doch voller Selbstvorwürfe.

Heute war kein guter Tag. Ich frage mich: Wie lange dauert ein Entzug?

Tag 43: Montag, 4. Mai

Liebes Tagebuch. Der heutige Tag war kurzweilig.

Zunächst amüsiert mich die Hertha. Einmal mehr. Salomon Kalou schafft es, innert wenigen Minuten einen ganzen Berufsstand in Verruf zu bringen. Er erinnert mich an mich. Nach Semesterprüfungen gehe ich ähnlich konsequent gegen Berufsgenossen vor, blamiere mich und alle anderen Journalismuskommilitonen in Bars einer Stadt im Kanton Zürich.

Am frühen Abend gehen wir zur Wiese gegenüber. Sie war wochenlang geschlossen. Ab und zu kletterten Vertreter der örtlichen Dorfjugend über das Gitter. Sie hielten Händchen, tranken Bier und rauchten Zigaretten. Einmal erwachte der Bünzli in mir und ich postierte mich mit einem Feldstecher auf der Terrasse. Offenbar spürten sie meine bösen Blicke, da sich diese künftigen Versager nach wenigen Minuten wieder verzogen hatten.

Nun ist die Wiese wieder geöffnet. Wir packen Pingpongschläger und Bälle sowie Bier und Chips ein. Alles in allem gleicht die Aufregung dem Morgen vor einer Weltreise. «Es isch mega schön do!», staune ich, als hätte ich noch nie eine grüne Wiese mit Menschen darauf gesehen. Gegenwärtig nehme ich, was ich kriegen kann. Gestern jubelte ich, als der Geschirrspieler seinen Dienst aufgenommen hatte.

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Heute spielte ich Pingpong.

Bild: ©Peter Gerber Pressefotograf

Jedenfalls: Meine Freundin und ihre kleine Schwester bringen mich schnell zurück auf den Boden der Tatsachen. Ich bin chancenlos beim Pingpong. Was mich zur Frage bringt: Sind meine Freundin und ihre kleine Schwester so talentiert oder bin ich derart unbegabt? Ich tippe auf beides. Ich schlage zu fest, das ist mir bewusst. Ich sehe das Offensichtliche, aber ich bin nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Meinen doch ziemlich zuverlässigen Bierkonsum habe ich in den letzten Wochen durch die exzessive Einnahme von Kaffee ersetzt. Ich habe ständig Bauchweh deswegen, trinke aber weiterhin Kaffee. Ich bin auf eine fatale Weise faul, weil ich immer wieder dieselben Fehler mache.

Irgendwann sind wir zu sechst und spielen Rundlauf. Weil ich fest davon ausgehe, dass Alain Berset täglich diese Kolumne liest: Diese sechs Personen leben im selben Haushalt. Ich erreiche zwar mehrfach den Final, ein Böhnli bleibt mir aber verwehrt. Diese Misserfolge sind mir heute seltsam egal. Ich geniesse Sonne und Bier.

Tag 42: Sonntag, 3. Mai

Liebes Tagebuch. Ich träume vom Grümpelisonntag.

Am Grümpelisonntag spielen die Meiers beim Familienturnier mit. Dass dieses ohne Punkte und somit ohne Rangliste über die Bühne geht, findet Vater Meier «en Witz». Tobias und Lea von den Müllers sind ebenfalls dabei, damit die Meiers genügend Spielerinnen und Spieler stellen. Tobias steht im Tor. Gegen ihn richtet sich der Zorn von Vater Meier, der auch mal einen umgrätscht. «E Zeiche setze» brüllt er dann, während Mutter Meier verständnislos den Kopf schüttelt. Sohn Marco spielt grundsolide seinen Stiefel herunter, wird aber im Laufe des Tages nachlässiger. Im Übermut des fünften Biers ignoriert er seine defensiven Pflichten. Von Vater Meier gibt es daraufhin einen kräftigen «ZS». Tochter Simona schiesst schliesslich die meisten Tore. Am Abend blinzeln letzte Sonnenstrahlen in die Sportanlage. Das Clubhaus wirft einen langen Schatten. Vater Meier tritt mit einem Tablar hinaus, bringt Bier und Cola. Auch Hans-Jörg sitzt auf der Festbank. Er erzählt von früher. Seniorenmeisterschaft kurz nach der Jahrtausendwende. Aus dem unpräzisen Abschluss von der Strafraumgrenze, den der gegnerische Goalie überfordert passieren liess, ist längst ein 30-Meter-Kracher geworden. Und aus dem Lächeln der jungen Kellnerin ein Flirt. Angelo und Fabio setzen sich dazu. Angelo spielte mit Vater Meier «im Eis», Fabio ist sein Sohn, er tschuttet mit Marco zusammen im A. Man kennt sich. Man kennt nichts anderes. Die Welt ist für ein paar Stunden in Ordnung.

Tag 41: Samstag, 2. Mai

Liebes Tagebuch. Ich bin ein arbeitsamer, eifriger, aber unbegabter Mann von sechsundzwanzig Jahren. Kein Umstand hat mir jemals so viel Vergnügen bereitet wie jener des Gewinnens. Nur hier konnte ich mich ganz der Leidenschaft hingeben. Und ich begriff, dass Ekstase keine Erfindung der Dichter ist, sondern tatsächlich existiert. Kaum jemand dürfte so wonnige Erschöpfung verspürt haben wie ich nach einem Sieg. Fragt man mich, was gegenwärtig den grundlegenden Zug meiner Existenz bildet, so würde ich antworten: das Wetteifern.

Also trat ich heute meiner Geliebten von angenehmen Äusseren gegenüber und bat sie um ein Gespräch. «Ich wage, Sie zu stören. Ob Sie sich für eine Partie am Töggelikasten begeistern können, will ich wissen.» Sie bejahte.

Meine Wenigkeit spannt mit Elena zusammen. Meine Geliebte dagegen ernennt ihre Schwester zur Mitstreiterin. So herzlich ich ihnen auch zugetan bin, ich kann mich nicht enthalten, meine Rede mit allerlei Sticheleien zu würzen. «Git en Sieg ohni Gegegoal», sage ich mit himmelhohem Übermut. Meine Geliebte macht daraufhin das erste Tor. «En herrliche Bölz», jubiliert sie.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Heute spielten wir am Töggelikasten.

Bild: Stephanie Ott / ARC

Ich entsinne mich meiner Stärken und gleiche aus. «E massloses Gschoss», halte ich fest. Auf dem Gesicht meiner Geliebten malt sich hohe Achtung. Doch ihre Schwester stellt auf drei zu eins. Entsetzliche Zweifel bemächtigen sich meiner. Vier zu eins, fünf zu eins. Ich zittere am ganzen Leib. Zuweilen will es mir scheinen, als nutzen die Kontrahentinnen unlautere Mittel.

Ich ertappe mich vermehrt beim Formulieren abgründiger Gedanken. Ersuche Elena, sich in Konzentration zu üben, obschon ich der Ursprung allen Übels bin. Gott mag mich richten, aber ich habe nicht den Mut, meinem Gewissen zu folgen.

Meine Geliebte regt an, die Teams zu wechseln. Meine Seele ist von Entsetzen gepackt. Mitleid ist das Letzte, wonach ich strebe! Und so erschöpft sich ihr Vorschlag mit der Aussprache ihrer Worte. «Nichts da!», fauche ich.

Neuerliches Spiel, neuerliche Niederlage. Meine Lage ist beklagenswert. Schliesslich hat Petrus Erbarmen und lässt es regnen. Das Spiel ist beendet. Sie haben mich ermüdet mit den ständigen Siegen.

Die anschliessenden Gespräche über die Kämpfe am Töggelikasten erwecken ein bedrückendes Gefühl in mir. So ersuche ich sie, das Thema zu wechseln. Allmählich bin ich des ewigen Wetteiferns überdrüssig. Unter uns: Vor allen Dingen bin ich des ewigen Verlierens überdrüssig.

Tag 40: Freitag, 1. Mai

Liebes Tagebuch. Heute war das Wetter ähnlich beschissen wie meine Laune. Ich setzte mich vor den Fernseher und sah mir Filme an, die ich mir oft ansehe, wenn die meteorologischen und emotionalen Umstände hundsmiserabel sind. Ausserdem ist die Glotze bei meiner Freundin zu Hause ziemlich geil.

Ich beginne mit «Hooligans». Der Film erzählt von einem jungen Typen, den sie aus einer Fakultät in den USA geschmissen haben. Er sucht bei seiner Schwester in London Zuflucht. Der Bruder ihres Mannes nimmt ihn widerwillig mit ins Stadion. Und das ändert alles. Dieser Bruder ist nämlich bei der berühmt-berüchtigten Green Street Elite, die West Ham mag und auch Alkohol und eine Tracht Prügel ziemlich in Ordnung findet. Ich frage mich, ob es Zusammenhänge zwischen meiner Verfassung und der Wahl des Filmes gibt, verwerfe den Gedanken aber wieder. Aus Selbstschutz. Jedenfalls sind die Bilder des Upton Parks und der britischen Backsteinhäuser wundervoll. Die Loyalität unter den Mitgliedern der Green Street Elite rührt genauso zu Tränen wie Terrence Jays «One Blood» am Ende des Films. Das alles ist aber nichts für Minderjährige und schwache Nerven.

So, ich akzeptiere die Perspektivlosigkeit des Tages und entschliesse, meinen Kontrollverlust entsprechend zu zelebrieren. Ich schlendere in Trainerhosen zur nächsten Tankstelle, besorge Cola und Chips. Und lege «An jeden verdammten Sonntag» ein.

Insgeheim ist das mein Lieblingsfilm. Wenn ich mit aufgeblasenen Studentinnen und Studenten über Lieblingsfilme spreche, nenne ich freilich andere Streifen (meist «Club der toten Dichter»). Im Stillen verabscheue ich aber ihre unaufrichtige Suche nach den Worten zwischen den Zeilen, nach Vielschichtigkeit. Viele gefallen sich in dieser Rolle, konsumieren aber hauptsächlich «Germany’s Next Topmodel» oder «Bachelorette». Was ich überhaupt nicht verurteile. Zu verurteilen ist einzig, sich schlauer zu geben als man ist. Aber das ist ein anderes Thema. Jesses. In «An jeden verdammten Sonntag» geht es um ein fiktives Footballteam in Miami. Ausgangslage: vermeintlich überholter Trainer, veralteter Quarterback, aufmüpfiger und egozentrischer Ersatzquarterback, junge Teambesitzerin. Viele Eitelkeiten und Intrigen, viel Koks und viel nackte Haut. Aber auch: viele Pässe und Tacklings. Al Pacinos Ansprache vor dem entscheidenden Spiel kann ich in- und auswendig. «Wenn wir die Zentimeter zusammenzählen, die wir geholt haben, ergibt das am Ende den verdammt wichtigen Unterschied zwischen gewinnen und verlieren. Mehr noch: zwischen Leben und Tod.» Gänsehaut, einfach Gänsehaut. Besonders schön ist die Szene, als Verteidiger Luther «Shark» Lavay den Sportwagen des eigenbrötlerischen Willie Beamen mit einer Säge halbiert.

Erste Gewissensbisse. Soll ich noch ein wenig arbeiten oder «Gegen jede Regel» schauen? Ich tue Letzteres.

Ich beruhige mein Gewissen, indem ich mich selbst darauf hinweise, dass «Gegen jede Regel» ein Teil der amerikanischen Geschichte erzählt. Noch in den Siebzigern gibt es Schulen nur für Weisse und nur für Schwarze. Doch nach und nach werden diese Schulen zusammengelegt. So auch in Virginia, wo nun Weisse dieselbe Highschool besuchen wie Schwarze. Einigen Idioten passt das nicht in den Kram. Als Herman Boone (gespielt von Denzel Washington), ein Afroamerikaner, zum Headcoach des Footballteams ernannt wird, droht die Stimmung zu kippen. Doch Boone formt aus einem Haufen weisser und schwarzer zerstrittener Jungs ein Team. Es entstehen Freundschaften fürs Leben. Und Siege. Als der Mannschaftskapitän mit dem Auto verunglückt, habe ich Tränen in den Augen. Nochmals, als ich mir vergegenwärtige, dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt. Einer der besten Momente des Films: Als das Team in der Garderobe «Ain’t No Mountain High Enough» singt.

Tag 39: Donnerstag, 30. April

Liebes Tagebuch. Bald sieben Wochen ohne Sport. Läck, es schisst mi ah.

Tag 38: Mittwoch, 29. April

Liebes Tagebuch. Ich sass heute mal wieder vor dem Fernseher und hörte den Bundesräten zu. Viola Amherd verkündete am frühen Abend Lockerungen für den Sport. Wettkämpfe sind bis zum 8. Juni verboten. Anschliessend könnte die Super League ihren Betrieb wieder aufnehmen.

Ich traue dieser Verheissung nicht. Weil in diesen Zeiten vieles ungewiss ist. Und überdies ist der FC St. Gallen involviert. Ich kann die Enttäuschung schon riechen.

Überhaupt: Ich bin es leid, zu spekulieren. Vielleicht bin ich es auch langsam leid, zu hoffen. Ich wurde in den letzten Wochen ein wenig zum Pragmatiker. Aus Bequemlichkeit, klar. Aber auch, weil mir nichts anderes übrig blieb. Ich kann das alles nicht beeinflussen.

Ich bin kein Virologe und kein Bundesrat. Zum Glück. Ich habe keine Vollkostenrechnung gemacht und weiss nicht, wie viel noch im Portemonnaie der Vereine ist.

Also warte ich ab. Ich lese Q&A’s und Kommentare wie bis anhin.

Tag 37: Dienstag, 28. April

Liebes Tagebuch. Heute hatte ich meinen Cheat Day. Den siebten in den letzten sieben Tagen. Wir fuhren zu dritt nach Hinwil, um bei McDonald’s Burger zu essen. Ich rechtfertigte diesen Ausflug mit dem Workout von letzter Woche. Und sagte mehr zu mir als zu den anderen: «Hüt hani schono viel gschaffed.» Ich glaubte mir kein Wort. Verlebt wie ich war, trug ich Flipflops, Fussballshorts, das Shirt von vorgestern und einen alten Kapuzenpullover.

Weil nur der McDrive offen war, stauten sich die Autos bis zum Kreisel. Ich dachte mir: Die Menschen haben einfach einen Dachschaden. Kaum eröffnet McDonald’s wieder, lassen sie alles stehen und liegen. Sie hielten wochenlang ohne aus, aber keine weitere Stunde. Eine stand mit ihrem Velo in der Schlange und wurde nass vom starken Regen. Und einmal kam der Bus nicht vorbei und der Chauffeur hupte wie von Sinnen. Ich musste lachen, weil ich mir vorstellte, irgendjemand würde zu spät zum Vorstellungsgespräch kommen. Ich musste nochmals lachen, weil mir klar wurde, dass momentan kein Mensch zu einem Vorstellungsgespräch geht.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Heute war ich bei McDonald's.

Bild: Daniela Frutiger / Diana Frutiger

Fast eine halbe Stunde dauerte es, ehe wir einer Frau mit Gesichtsmaske unsere Bestellung aufgaben.

Ähm. En McChicken mit Pommes. S Menü? Jo, genau. Medium? Jo. Getränk? Wie bitte? Weles Getränk? Ähm. E Cola. Heilandzack, wie chasch nur? Süs no was? Jo, Chicken Nuggets. Wie viel? Wie viel gits denn? Vier, sechs, zäh und zwanzg. Wie viel sölli neh? Aso sorry, sicher zwanzg. Die magi allei. zwanzg, bitte. Weli Sauce? Curry. Wä, voll nöd fein. No meh? Ähm. Süss-sauer. No meh? Jo, nomol zwei Curry. Heilandzack. No meh? Sauce? Ähm, nei. Aber no zwei Big Mac. S Menü? Jo. Medium? Jo, genau, sorry. Getränk? Wa wönd ihr? Sölli au e Cola neh? I nimm en Ice Tea. I au! Zwei Ice Tea, bitte. Dörfs nomol öpis sii? Nei, da isch alles. Gott sei Dank. Haha.

Anschliessend assen wir auf dem Aldi-Parkplatz. Es dauerte keine zwei Minuten, bis Sauce auf meinen Pullover tropfte. Ich war in einem erbärmlichen Zustand.

Tag 36: Montag, 27. April

Liebes Tagebuch. Seit Wochen läuft kein Fussball. Ich frage mich noch immer, woran ich mich festhalten soll.

Die Toten Hosen sangen einmal: «Es gibt nicht viel auf dieser Welt, woran man sich halten kann. Manche sagen: die Liebe. Vielleicht ist da was dran. Und es bleibt ja immer noch Gott, wenn man sonst niemand hat. Andere glauben an gar nichts. Das Leben hat sie hart gemacht. Es kann so viel passieren, es kann so viel geschehen. Nur eines weiss ich hundertprozentig: Nie im Leben würde ich zu Bayern gehen.»

Ich war sechs Jahre alt. Ich erinnere mich an die CD-Hülle auf dem Schreibtisch meines grossen Bruders lag. An seine Abneigung gegen die Bayern, die ich irgendwann auch in mir trug und bis heute nicht ablegen konnte. Am Samstagnachmittag schaue ich immer zuerst, wie die Bayern gespielt haben. Ich war immer Fan ihrer Gegner.

Ich hielt mich fest an der Abneigung gegen die Bayern. Und heute? Ich würde viel geben für ein normales Fussballwochenende. Für einen Bayern-Sieg in letzter Sekunde. Für die Sportschau und das Sportstudio.

Im April 2020 habe ich nur noch einen Pflichttermin im TV-Kalender: «Germany’s Next Topmodel» am Donnerstagabend. Heidi Klum lässt junge Frauen laufen, posieren und streiten. Wer nicht so gut läuft, posiert und streitet, muss gehen. Sie sagt dann: «Heute habe ich leider kein Foto für dich.»

Es ist dasselbe Prinzip wie früher, beim Sesseltanz im Kindergarten. Man bildete einen Kreis aus Stühlen, wobei es einen Stuhl weniger gab als Kinder. Sobald die Musik abstellte, setzte man sich auf einen Stuhl. Wer keinen erwischte, war draussen.

Ich erzähle meiner Freundin die Parallelen zwischen dem Sesseltanz und «GNTM». Sie sagt, ich hätte an Ostern vorgeschlagen, einen Schoggihasen weniger zu verstecken. «Dass es en Wettkampf git», soll ich gesagt haben.

Ich denke darüber nach, am Donnerstag eine Vorschau über «GNTM» zu schreiben. Ich glaube, ich vermisse den Wettkampf und sein Rundherum. «I glaub, d Jacky het die beste Chance», schreibe ich meinem besten Freund. Er antwortet: «D Leistige vo de Lijana sind halt scho huere konstant.»

Wahnsinn, «Germany’s Next Topmodel» gibt mir momentan Halt.

Tag 35: Sonntag, 26. April

Ich mag diese Sonntage nicht. Früher kam ich spät nach Hause und wachte spät wieder auf. Ich blieb noch ein bisschen liegen, weil ich noch nicht wissen wollte, wieviel zu viel es gestern war. Auf dem Handy sah ich ungelesene Nachrichten und traute mich nicht, sie zu lesen. Weil ich nicht mehr wusste, wem ich was geschrieben hatte. Und zum Teufel, weshalb. Ich stand auf. Der Kopf schmerzte und im Magen war mir flau. Ich kramte ein letztes Aspirin aus dem Plastikbehälter und nahm einen Schluck Wasser. Draussen regnete es, zumindest war es immer so in meiner Erinnerung.

Irgendwann stellte ich den Fernseher ein, spulte zurück, sah das «Sportstudio» und «Match of the Day». Das Leben ist ein bisschen angenehmer, wenn Rouwen Hennings trifft und Gary Lineker spricht. Am Nachmittag raffte ich mich auf und ging ins Stadion oder blieb liegen und schaute das «sportpanorama». Und ehe mich die übliche Sonntagabendmelancholie überkam, schlenderte ich mit meinem besten Freund an die Tankstelle. Wir rekonstruierten den gestrigen Abend, kauften Chips und spielten dann Fifa. Irgendwie waren das gute Sonntage.

Gestern ging ich früh schlafen und wachte früh wieder auf. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit diesem Tag anstellen sollte. Was ich mit mir anstellen sollte. Der Himmel war blau, obschon Regen angekündigt war. Petrus verhöhnte mich. Ich konnte mich nicht einmal angemessen bemitleiden. Und überdies keine Serien gucken. Noch immer bin ich mit der zweiten Staffel von «Sunderland 'til I die» nicht durch. Tagsüber hält mich das Gewissen und die Sonne davon ab. Abends, wenn sich die Sonne verzieht, haben meine familiären Pflichten leider Vorrang. Ich bleibe nach dem Abendessen sitzen, nicke ein paar Witze ab, helfe halbherzig beim Abwasch mit.

Tag 34: Samstag, 25. April

Es gibt nicht mehr so viele Gründe, einen Wecker zu stellen. Ich muss keinen Bus oder Zug erwischen. Ich muss das Haus nicht mehr verlassen, weil ich mit nichts und niemandem verabredet bin. Ausser zur Videokonferenz um halb zwölf.

Anfangs fühlte ich mich wichtig. Videokonferenz, wow. Oder besser: Videocall. Wow, wow, wow. «Cha nöd, ha no e Videokonferenz», sagte ich irgendwann Freundin und Familie, wenn der Geschirrspüler fertig war oder jemand tischen sollte. «Viel z’tue?», fragten sie. Ich log und sagte: «Ja.» Und behielt für mich, dass ich zur Begrüssung jeweils «Hallo» sage, zur Verabschiedung in die Kamera winke und dazwischen schweige.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Die tägliche Videokonferenz gibt meinem Leben immerhin ein wenig Struktur.

Bild: Peter Klaunzer / KEYSTONE

Doch die Begrüssung, die Verabschiedung und das Schweigen dazwischen geben meinen Tagen immerhin eine Struktur. Und diese Struktur brauche ich. Denn mich muss man zum Glück zwingen. Ich habe keine Lust auf Büro und Vorlesungssaal. Ich schleppe mich genervt hin. Aber ich gehe abends glücklich nach Hause. Weil ich Neues höre und sehe. Weil ich muss und nicht nur darf. Weil ich nicht in den Tag hineinlebe.

Die zweite grosse Routine neben der Videokonferenz ist das Töggelen nach Mittag- und Abendessen. «Nomol!» oder «Revanche!» sage ich, weil ich oft verliere. Aber ich sage auch «Nomol!» und «Revanche!», weil ich weiss, dass ich ein wenig aufgeschmissen bin, wenn ich wieder alleine am Schreibtisch sitze.

Tag 33: Freitag, 24. April

Liebes Tagebuch. Ich stehe in der Küche, nehme Korkenzieher und Weinglas aus Schublade und Schrank. Ich schenke ein. Noch ein bisschen. Noch ein kleines bisschen. So, das reicht. Ich gehe ins Arbeitszimmer, schliesse die Tür hinter mir. Ich knipse die Tischlampe an und die Deckenlampe aus. Ich setze mich. Ich halte inne, seufze. Ich nehme mir Zeit und einen Schluck. Im Hintergrund läuft Chopins «Nocturnes». Ich drücke auf das kleine Dreieck links unten.

Ich sehe mir ein Video von Zinédine Zidanes schönsten Dribblings und Ballannahmen an.

Zidane zuzusehen, ist, als würde man ins Museum gehen. Ich habe das Gefühl, ich tue etwas Sinnvolles. Ich bilde mich weiter. Ich sehe Bewegungen, die einzigartig sind.

Hatte Zidane den Ball am Fuss, ging er immer leicht gebückt. Als verneige er sich vor dem Ball. Fussballtrainer predigen bereits bei den Junioren, als Ballführender das Spiel im Blick zu haben, nicht den Ball. Doch Zidane sah den Ball an. Mit der Ernsthaftigkeit eines Künstlers, der seine Leinwand betrachtet. Zidane wusste längst, was vor und hinter ihm geschah. Wer sich näherte und wer sich entfernte. Wer frei und wer gedeckt war. Und wenn sich jemand erdreistete, ihm den Ball stehlen zu wollen, befreite sich Zidane. Mit Finten und Pirouetten. Es waren stets Kunststücke aus Notwendigkeit. Zidanes Finten und Pirouetten waren nie Selbstzweck. Sie waren Teil von etwas Grösserem. Von einem Spielzug. Sie waren Pinselstriche eines Gemäldes.

Tag 32: Donnerstag, 23. April

Liebes Tagebuch. Heute habe ich die ersten beiden Folgen von «The Last Dance» gesehen. Eine Netflix-Dokumentation über Michael Jordan und die Chicago Bulls vor der Jahrtausendwende.

Ich kannte Jordan bisher nur aus Erzählungen und Youtube. Dabei ist er überall. In den Statistiken ganz oben, auf Schuhen, T-Shirts und Pullovern.

Es gibt eine Szene in der zweiten Folge, die mir besonders blieb. Chicago startete schwach in die neue Saison. Scottie Pippen, zweitbester Werfer im Team, fiel zudem nach einer Operation aus. Das Auswärtsspiel beim Schlusslicht, den Los Angeles Clippers, stand an. Die Bulls trainieren. Oder besser: Sie werden trainiert. Von Michael Jordan, der im Training Anweisungen gibt, faucht und pöbelt. Über 20 Jahre später sitzt Jordan in seinem Haus und spricht über diese Zeit. Er sagt: «Wenn man dominant bleiben will, dann gibt man anderen kein Selbstvertrauen.» Er sagt das nicht mit Distanz. Nicht mit der Weisheit eines 57-Jährigen, der inzwischen darüber lachen könnte. Denn das tut er nicht. Er lacht nicht, verzieht stattdessen das Gesicht. Jordan meinte das ernst und tut es noch immer. Gegen die Clippers müssen die Bulls über zwei Overtimes spielen, gewinnen aber schliesslich. Weil Jordan 49 Punkte macht. In einer Szene hält er den Ball in der Hand, sucht nach Anspielstationen, findet aber keine. Und dann verdreht er die Augen. Inmitten von tausenden Menschen und wilden Spielzügen.

Michael Jordan will unbedingt gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits fünf NBA-Meisterschaften gewonnen, doch er wollte um jeden Preis eine sechste.

Ich bin bereits zufrieden mit mir, wenn ich ohne einen zweiten Wecker aufstehen kann. Wenn ich mir vornehme, eine Stunde laufen zu gehen, resümiere ich nach einer halben, dass es reicht. Und gehe nach Hause. Mit dem Hochgefühl, als hätte ich gerade einen Marathon gelaufen. Wir Normalsterblichen sind so schrecklich weit weg von diesem unbedingten Willen Jordans.

Dass diese Gefühle beim Zusehen ankommen, ist nicht selbstverständlich. Mittlerweile gibt es viele als Dokumentation getarnte Filme und Serien. Oft sind sie nicht mehr als aufwändig produzierte Werbevideos. Bei «The Last Dance» ist das anders.

Ich kannte Jordan nur als Mythos und Logo. Jetzt kenne ich ihn als Spieler. Und verstehe den Mythos.

Am Sonntag erscheinen zwei neue Folgen.

Tag 31: Mittwoch, 22. April

Liebes Tagebuch. Früher schauten wir zusammen «Wetten, dass..?» Wir sprachen über das Outfit von Thomas Gottschalk und über die Wette mit dem Traktor. Einmal durfte ich bis zum Schluss aufbleiben, weil David Beckham zu Gast war.

Irgendwann schauten wir «O.C., California». Ich tippte Mutmassungen in mein neues Nokia-Handy mit 2,0-Megapixel-Kamera. Und kürzte die Nachricht an Dani auf 160 Zeichen, weil ich nur 100 Gratis-SMS pro Monat zur Verfügung hatte. Kill your darlings, schon damals. Dani schrieb zurück. Er war sich sicher, dass Seth und Summer zusammenbleiben würden.

Wir schauten immer Fussballspielen.

Im Frühling 2020 schauen wir die Pressekonferenzen des Bundesrats. Wir rätseln über Alain Bersets Halskette, bewerten Viola Amherds Bluse mit Tiger-Muster. Wir übersetzen, interpretieren, lesen im Gesicht und zwischen den Zeilen. Wir hören kaum etwas über den Sport.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Im Frühling 2020 schauen wir uns die Pressekonferenzen der Bundesräte an.

Bild: Peter Klaunzer / KEYSTONE

Heute machten mehrere Medien publik, wie sich die Swiss Football League (SFL) die Fortsetzung von Challenge und Super League vorstellt. Ende Mai soll wieder gespielt werden. Vielleicht schauen wir im Sommer 2020 wieder Fussballspiele. Ich weiss nicht, was ich davon halten soll. Ich weiss nicht einmal, ob das etwas mit mir macht. Ich bin abgestumpft von den Breaking News und Eilmeldungen. Ich habe die Nase voll von Absagen und Alternativterminen. Vom ewigen Spekulieren und Warten.

Tag 30: Dienstag, 21. April

Liebes Tagebuch, so verbringe ich meinen Morgen.

Der Wecker klingelt um acht Uhr. Ich habe fast acht Stunden geschlafen und fühle mich, als hätte mich ein Lastwagen überrollt. Ich habe keine, wirklich gar keine Ahnung, wie ich es zuvor angestellt habe, um sechs aufzustehen.

Ich schwanke in die Küche, schalte die Kaffeemaschine ein und koche Milch. Ich nehme meine SC-Freiburg-Tasse aus dem Geschirrspüler, schütte ein wenig Zucker hinein und stelle sie unter den braunen Strahl, der dampft und Lärm macht. Von mir aus kann alles zugrunde gehen, solange sie mir die Kaffeemaschine dalassen.

Ich setze mich an den Esstisch. Auf Instagram erkundige ich mich nach dem Leben anderer. Ich schüttle den Kopf, weil Dutzende gestern den Sonnenuntergang fotografiert haben. Elende Selbstdarsteller. Melanie hat mal gesagt, ich solle die App löschen, wenn ich mich so aufrege. Aber wenn ich sie wirklich löschen würde, könnte ich mich nicht mehr aufregen. Und, naja, das würde mir fehlen. Anschliessend öffne ich den «Online Soccer Manager», wo ich erfreut feststelle, dass ich Leverkusen 3:0 geschlagen habe. Ich habe den 1. FC Köln auf Rang vier geführt, was allerdings kaum überrascht, da ich Aubameyang, Benzema, Milinkovic-Savic, Rakitic, van Dijk und Bonucci verpflichtet habe. Ich sende Simon via WhatsApp ein paar Sticheleien. Sein Team hat 5:0 gewonnen.

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Beim «Online Soccer Manager» geht Karim Benzema für den 1. FC Köln auf Torejagd.

Bild: Kiyoshi Ota / EPA

Ich schlendere zurück ins Zimmer, um mir das Brentford-Trikot (Dean, Nummer sechs) überzustreifen. Dann trete ich hinaus auf die Terrasse, wo meine Freundin und ihre Schwester Platz für unser Workout schaffen. Ich quäle mich 40 Minuten lang. Ich weiss nicht, was schlimmer ist. Die Crunches und Triceps-Dips oder die Housemusik im Hintergrund. Immerhin kann ich an meiner Sommerbräune arbeiten. In einem Anflug von Grössenwahn erkenne ich manchmal den jungen Enrique Iglesias in meinem Spiegelbild.

Beim Duschen lausche ich Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews. Solange die «Drei Fragezeichen» ihre Fälle lösen, gibt es noch Hoffnung. Ich ziehe Trainerhosen und ein Trikot des FC Elche an. Ich glaube, dieser Kleidungsstil wird die Coronakrise überdauern. Ich hätte nicht das geringste Problem damit.

Ich setze mich an den Schreibtisch und öffne den Laptop. Ich überfliege die neuesten Mails und Twitter. Kurz sehe ich beim Boulevard vorbei. Allerdings habe ich keine Lust auf irgendwelche Einschätzungen und Zahlen und mache mich stattdessen an die Arbeit.

In einem unbeobachteten Moment schleiche ich in die Küche und lasse wenige Sekunden später zwei Scheiben Salami in meinem Mund verschwinden. Ich bin ein echter Adrenalinjunkie.

Gegen zwölf Uhr gibt es Zmorge oder Zmittag. Unausgesprochen haben sich gewisse Ämtli etabliert. Ich tische meistens. Es hat ein bisschen was von Klassenlager.

Tag 29: Montag, 20. April

Der gestrige Prolog führte von Château-Gorges-Cour (Kehlhof) der Route de Lac (Seestrasse) entlang zur Avia-Tankstelle. Ich kaufte kurz vor Ladenschluss noch zwei Flaschen Weisswein und Chips. Heute steht bereits die Königsetappe auf dem Programm. Via Kreuzstrasse zur Alpe d’Alterszentrum. Und dann hinunter zur Migros.

Ich trage Trainerhosen und ein gelbes T-Shirt. Und ich bin willens, das Maillot Jaune zu verteidigen. Nach 20 unspektakulären Metern folgt der Anstieg zur Mur d’Ebnet. Ein Berg der zweiten Kategorie. Problemlos sichere ich mir fünf Punkte. Weit und breit ist kein Greg van Avermaet oder Romain Bardet in Sicht.

Am Ende der Kreuzstrasse gibt es Punkte für die Sprinter. Ich befürchte bereits den leibhaftigen Peter Sagan im Nacken. Als ich mich umdrehe, sehe ich nur eine ältere Frau auf einem Velo. Ich lasse mich zurückfallen, um mich in ihrem Windschatten für den Sprint zu wappnen. Wir fahren ein paar Meter, ehe die Dame irritiert anhält und fragt, was mit mir los sei.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich wähne Peter Sagan im Rücken.

Bild: Sebastien Nogier / EPA

Ich bin derart fokussiert, dass ich nicht antworte. Pantani-Haltung. Abfahrt Richtung Unterführung Wädenswilerstrasse. Ich lasse das Rad 15 Meter laufen. Schliesslich beginnt der Anstieg mit immerhin einem Bergpunkt.

Zur Alpe d’Alterszentrum bewältigen die Fahrer eine Serpentine mit knapp 100 Metern. Die durchschnittliche Steigung beträgt 0,1 Prozent. Eine Passage, um die sich viele Legenden ranken. Ein Mythos. Unvergessen, wie sich hier zur Jahrtausendwende Jan Ullrich und Lance Armstrong duellierten. Es sind anspruchsvolle Sekunden. Die Zürcher Frühlingssonne brennt überdies erbarmungslos herunter.

Anschliessend kehrt das Peloton nach einer neuerlichen Unterführung zurück auf die Kreuzstrasse, die nun aus Kopfsteinpflaster besteht. Erinnerungen an die Flandern-Rundfahrt.

Am Horizont erscheint das orange «M» der Migros. Die Flamme Rouge! Ich denke gar nicht erst daran, mich nach meinen Konkurrenten umzusehen, sondern ziehe mein Ding durch. Ich bin als Erster beim Veloständer der Migros, besorge Pizzateig, Passata, Mozzarella, Tomaten, Schinken und Champignons.

Morgen steht die Schlussetappe Fernseher-Küche-Fernseher an.

Tag 28: Sonntag, 19. April

Liebes Tagebuch. Vor ein paar Tagen machte mich ein Redaktionskollege auf einen Tweet aufmerksam. Man sollte seine persönliche Top-Elf wählen.

In den nächsten Tagen sah mir auf Youtube Videos an, die Titel wie «Juan Roman Riquelme Craziest Skills & Goals Ever» trugen. Ich streifte durch Fussballdatenbanken und Erinnerung.

Und ich fand viel. Weil ich nichts vergessen hatte.

Ich konnte mir keine Franzwörtli merken. Ich habe längst vergessen, was ich vorgestern gegessen habe. Aber ich weiss, wer im Frühling 2002 für Lazio spielte. Angelo Peruzzi, Gaizka Mendieta oder Claudio Lopez. Ich kenne diese Namen auswendig. Sie machen etwas mit mir. Damals gingen sie direkt rein und nicht mehr raus.

Ich fragte mich, woher das kommt. Wahrscheinlich ist mein grosser Bruder schuld.

Als ich klein war, bestimmte er Lieblingsclub und Lieblingsspieler. Manchester United und David Beckham. Mein Zwillingsbruder bekam Barcelona und Rivaldo.

Was mein grosser Bruder grossartig fand, wurde für mich noch ein bisschen grösser. Er mochte die Bösewichte des Weltfussballs. Eric Cantona oder José Mourinho. Ich muss lächeln, weil ich eine Schwäche für Sergio Ramos und Diego Simeone habe. Ich weiss jetzt, warum.

Er gab mir viel mit. Die alten Bravo-Sport-Hefte und Anstand. Vor allem aber die Sprache des Sports.

Dank ihm weiss ich, dass David Tyree in der Superbowl 2007 den Pass von Eli Manning mit dem Helm fing. Ich kenne Allen Iverson und die Bedeutung der Auswärtstorregel. Ich verstehe die Sprache des Sports. Ich kann sie sprechen. Immer und überall. Ich kann fachsimpeln, mitreden, mindestens so tun, als ob. Ich fühle mich nie fremd, wenn ich über Sport rede.

Er gab mir viel mit. Auch die Liebe zum Wettkampf.

Meinem Zwillingsbruder und mir waren Hausaufgaben und Schulnoten einerlei. Wir interessierten uns für Noelle und Simona, für Champions League und PlayStation. Wenn es draussen regnete, spielten wir «Need for Speed», «Fifa», «Madden» oder «NBA live». Manchmal kam mein grosser Bruder mit seinem besten Freund. Sie wetteten auf und mit uns. Um ein Trikot oder ein paar Franken.

Meine Freundin fragte mich vor zwei Wochen, ob ich «Federball» spielen wolle. Ohne Netz und ohne Punkte. Ich sagte: «Ohne Gewinner und Verlierer? Wer macht denn sowas?» Sie war irritiert. Dabei war ich nur ein bisschen wie mein älterer Bruder.

«Jeden verdammten Sonntag» ist einer meiner Lieblingsfilme. Al Pacino spielt darin einen Footballtrainer. Kurz vor Schluss hält er eine vierminütige Rede an sein Team. Ich höre mir sie manchmal an. Vor Prüfungen oder wichtigen Gesprächen. Er sagt: «Und ich weiss, dass noch Leben in mir ist, solange ich noch dafür bereit bin, für dieses Stückchen zu kämpfen und zu sterben.»

Vielleicht ist es das. Es geht immer um etwas. Es ist immer etwas da. Etwas, das sich lohnt. Die Alternative ist: nichts. Deshalb spiele ich im Frühling 2020 Brändi Dog und Ligretto mit einer Hingabe, als wäre der Weltfrieden davon abhängig.

Und deshalb fühle ich mich selten fremd.

Tag 27: Samstag, 18. April

Liebes Tagebuch. Heute habe ich begonnen, einen Roman zu schreiben. Natürlich ist er nicht autobiografisch.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich schreibe die ersten Zeilen eines Romans.

Bild: Oliver Menge / D5

Natürlich.

Der traurige Sportjournalist

Er tippt ein paar Worte in den Computer. Einige Sekunde später spielt Bayern München gegen Valencia. Das Bild ist etwas schmaler und ungenauer als heute. Und die Frisuren erinnern an die Backstreet Boys oder Take That. Er sitzt im Licht seiner Bürolampe, die wie ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet ist. Rundherum ist es fast dunkel. In ihm drin ebenfalls. Der Schreibtisch ist voll. Vier Bierflaschen stehen darauf. Eine ist halbleer. Dazu zwei Kaffeetassen und ein Weinglas. Ihre Ränder sind eingetrocknet. Auch ein schwarzes Notizbuch liegt da. «FCSG» wurde mit Arztschrift hingekritzelt. Darunter sind elf Punkte eingezeichnet. Das Zimmerfenster ist gekippt. Ab und zu fährt ein Auto vorbei und er hört Motorengeräusche. Grillen zirpen um die Wette. An den Trägern des Pultes hängen Bändel und Karten. «UEFA Champions League» ist aufgedruckt. Oder «Fifa World Cup». Alte Akkreditierungen. Eintrittskarten in eine Welt, in der er sich immer ein bisschen fremd fühlte. Weil er das ungläubige Staunen eines Kindes im Gesicht trug.

Er steht auf, zupft sich die alten Trainerhosen zurecht und duckt sich unter das Bett. Er nimmt eine Schuhschachtel mit Nike-Emblem hervor und entfernt den Staub mit dem Handrücken vom Deckel. In der Schachtel ist ein Stapel Papier. Der Wikipedia-Artikel von Jörg Stiel etwa. 11Freunde-Magazine, alte Zeitungen, zusammengefaltete Zettelchen. Seine ersten Gehversuche im Sportjournalismus.

Er hält einen Moment inne, blickt sich um. Sieht die Wand, wo Trikots von Werder Bremen (Vestergaard), Augsburg (Werner) und Manchester United (Beckham) die abblätternde Tapete verdecken. Sein Blick bleibt beim Bücherregal hängen. Er greift nach einem blau eingefassten Band. «Top Clubs» steht in weissen Lettern geschrieben. Er greift nach dem Buch und setzt sich an den Schreibtisch. Eselsohren zeugen von unbeschwerten Stunden des Stöberns. Seine Mutter kaufte ihm das Buch vor 17 Jahren, als er den Termin beim Zahnarzt überstanden hatte. In seinem kindlichen Eifer markierte er die für ihn interessantesten Stellen. Die Seiten des Manchester United Football Clubs sind am buntesten. Der Autor benutzte jeweils die ausgeschriebenen Namen in der Landessprache. Auch die Adressen notierte er. «Anschrift: Sir Matt Busby Way, Old Trafford, Manchester M16 ORA, Great Britain.»

Dieses Buch gehört zu seiner Geschichte. Dieses Buch ist voller Geschichten. Das ist alles, was ihm jetzt noch bleibt. Die Erinnerungen an sie.

Tag 26: Freitag, 17. April

Liebes Tagebuch. Gestern Abend lag ich neben meiner Freundin im Bett. Uns gab es jetzt seit genau zwei Jahren. Wir schwelgten, sprachen von früher. Über das «Kafisatz» in Winterthur. Über den letzten Zug nach Zürich und St. Gallen. Über unsere Reisen ins Tessin oder nach Bordeaux. Ich war etwas beschwipst von Erinnerung und Weisswein. Himmel, ich war aus der Übung.

Und dann machte mich der Alkohol ehrlich.

Ich sah ihr in die Augen, lächelte. Mir lag etwas auf der Zunge. Ich hätte platzen können vor Glück. Dieser Moment war gut.

«Was?», fragte sie neugierig.

«Wart churz», antwortete ich vielsagend und stellte die Musikböxli an.

«Was lohsch laufe?»

«Ov jung oder alt, ov ärm oder rich. Zesamme simmer stark, FC Köööööölleeee!»

«Mein Gott, was isch da?»

«Durch dick un durch dünn, janz ejal wohin. Nur zesamme simmer stark, FC Köööööölleeee!»

Die Sportbegeisterung meiner Freundin reduziert sich auf Besuche von Public Viewings während Welt- und Europameisterschaften. Ansonsten konsumiert sie kaum Sport. Mich stört das überhaupt nicht.

Im Zustand hoffnungsloser Euphorie ändert sich das jedoch. Also wenn ich angeheitert oder glücklich bin. Oder schlimmer noch: beides zusammen. Ich habe dann jeweils das eigenartige Bedürfnis, ihr die Grösse des Fussballs mit Worten begreiflich zu machen. Ich mutiere dann zu einem höchstwahrscheinlich unerträglichen Dozenten, der krampfhaft versucht, sein Publikum für irgendwas zu begeistern. Stets fallen Wörter wie «Philosophie», «Epoche» oder «Stil». Natürlich höre ich mich an wie ein Idiot. Einmal sassen wir nach drei Flaschen Rosé am Seeufer in Luzern und ich erklärte ihr vom Vermächtnis Johan Cruyffs. Vom Ballbesitzfussball Guardiolas. Meine Güte.

Auch an diesem Abend findet eine Vorlesung statt. Thema: Fangesänge.

«Weles Lied hesch etz am beste gfunde?», frage ich zum Abschluss meiner Ausführungen.

«Stern des Südens vode Bayern-Fans.»

Das gibt eine Zweieinhalb. Durchgefallen.

Tag 25: Donnerstag, 16. April

Liebes Tagebuch. Ich arbeite als Sportjournalist. Doch es läuft kein Sport. Also habe ich einen Matchbericht über ein Quidditchspiel verfasst.

Viel war geschrieben worden im Vorfeld des traditionsreichen Derbys. Über Neuzugang Harry James Potter, der kurz vor Ablauf der Transferperiode zu den Löwen wechselte. Über dessen neuen Besen. Der Nimbus 2000 soll die Spieler schneller fliegen lassen. Die magische Sportjournaille rätselte nicht nur über den Besen, sondern auch über Potter. Einige schrieben, er sei zu unerfahren die erste Runde des House Cups. Andere hielten Potter für das grösste Suchertalent überhaupt.

Der QC Gryffindor begann furios an der ausverkauften Hogwarts Road. Angelina Johnson sorgte mit einem Solo für den frühen Führungstreffer. United war um eine schnelle Antwort bemüht. Marcus Flint setzte sich erst gegen die Weasley-Brüder durch. Im anschliessenden Zweikampf mit der hartnäckigen Alicia Spinnet ging Flint regelwidrig vor. Schiedsrichterin Rolanda Hooch liess allerdings laufen. Flint zog ab, doch Gryffindor-Kapitän Oliver Wood kratzte den Quaffel von der Linie. Und leitete den Konter ein. Katie Bell und Angelina Johnson spielten einen Doppelpass, Johnson erhöhte auf 20:0 nach einer knappen Viertelstunde. Die Rot-Goldenen zeigten bestes One-Touch-Quidditch und waren überdies eiskalt vor den Ringen.

Dann veränderte sich das Spiel. Der Wendepunkt war die Auswechslung von Wood, der von Flint, dem Leader der Schlangen, niedergestreckt wurde. Flint wurde nur verwarnt, für Wood ging es nicht mehr weiter. Ausgerechnet Flint gelang wenige Minuten später der Anschlusstreffer. Nur noch 20:10 für Gryffindor.

Slytherins Spiel blieb auch nach der Pause körperbetont. Der auffällige Flint eroberte auf der linken Seite mit einem Schubser den Quaffel und lancierte Pucey, der mit einem zauberhaften Volleybestenstoss den Ausgleich besorgte. Slytherins Trainer Severus Snape reagierte, nahm Potter in Magiedeckung. Der Neuzugang war in den Minuten danach ohne Einfluss auf das Spiel. Und dennoch war es Potter, der dieses Spiel entschied. Slytherins Sucher Terence Higgs zog im Zweikampf mit Potter den Kürzeren. Potter war nun alleine vor dem Schnatz und schlug schliesslich zu. 170:20, der Sieg für den QC Gryffindor.

House Cup, 1. Spieltag
QC Gryffindor – Slytherin United 170:20 (20:10)
Hogwarts Road. – 9 167 Zuschauer (ausverkauft). - SR Hooch (SCO). - Punkte: 5. Johnson 10:0. 14. Johnson (Bell) 20:0. 37. Flint (Pucey) 20:10. 52. Pucey 20:20. 67. Potter 170:20
Gryffindor: Wood (29. Lineker); F. Weasley, G. Wesley; Johnson, Spinnet, Bell; Potter.
Slytherin: Bletchley; Bole, Derrick; Flint, Pucey, Montague; Higgs.
Bemerkungen: Slytherin ohne Malfoy (keine Spielberechtigung). 58. Zauber von Snape. Verwarnungen: 28. Flint (Unsportlichkeit), 50. Pucey (Foul).

Tag 24: Mittwoch, 15. April

Liebes Tagebuch. Heute sah ich mir auf Youtube stundenlang Konzerte von Bands an.

Liebes Tagebuch. Ich stellte fest, dass mir das Stadion fehlt. Vor allem ein ganz bestimmter Moment.

Beim jetzt schon legendären 3:3 zwischen dem FC St. Gallen und den Young Boys passierte einiges. Es wurde früher oder später viel gepfiffen. Je nach Lieblingsfarbe auch aus- und verpfiffen. Es fielen Tore, Schimpfworte und irgendwann auch alle Hemmungen. Doch mir blieb nicht der vermeintliche Siegtreffer von Lukas Görtler, nicht die vermeintliche Heldentat von Lawrence Ati Zigi und nicht die schreckliche Berner Endgültigkeit.

Mir blieb eine andere Szene.

75. Minute, der FCSG hatte eben den Ausgleich erzielt und der Ball war wieder im Spiel. Ermedin Demirovic erlief einen langen Ball aus dem Mittelfeld kurz vor der Outlinie im linken Couloir. Die aufgerückte Verteidigung von YB eilte zurück, Cedric Itten lauerte im Strafraum.

Eine Situation voller Möglichkeiten. In diesen Augenblicken multipliziert sich alles. Ballbesitz und Geschwindigkeit. Hoffnungen und Ängste. Was einmal war und was einmal kommt. Während diesen Sekunden baute sich ein allumfassender Lärm im Stadion auf. Eine fast greifbare Ungeduld auf etwas, das bleibt. Ein Tor. Die Menschen klatschten und schrien, als konnten sie Erwartung und Erregung nicht mehr für sich behalten. Für den FC St. Gallen stand ein Spieler mehr auf dem Platz. Und niemand war vom Platz geflogen.  

Diesen Augenblick gibt es auch bei Konzerten.

Coldplay tourten 2006, als sie noch gut waren, durch die Welt. Und machten Halt in Toronto. Sie spielten auch das grossartige «Politik». Nach dem zweiten Refrain hört man für gewöhnlich nur Klavier und Stimme des Leadsängers. Chris Martin singt, nein, fleht dann jeweils ins Mikrofon: «Give me love over this.» Doch dieses Mal sang, nein, flehte Martin nicht. Er verlor sich im Lärm der Arena, in der Tausende klatschten und schrien, als könnten sie Erwartung und Erregung nicht mehr für sich behalten.

Martin spielte Klavier mit einer beinahe unheimlichen Hingabe. Kurz vor dem grossen Finale des Songs sagte er schliesslich ins Mikrofon: «Es ist der 22. März 2006.» Als führe er Tagebuch. Als wolle er sich notieren, was hier gerade passiert war. Der Versuch, diese Energie einzuordnen, sie irgendwie begreiflich zu machen. Schliesslich setzte das Schlagzeug von Will Champion, der Bass von Guy Berryman und die E-Gitarre von Jonny Buckland ein.

Was für ein Tor.

Tag 23: Dienstag, 14. April

Liebes Tagebuch. Gestern ging ich nach Hause. Nach St. Gallen. Der offizielle Grund meiner Rückkehr war der Geburtstag meiner Mutter, der inoffizielle FIFA 20. Denn der Gamelieferant meines Vertrauens ignorierte meine Adressänderung und schickte die CD nach St. Gallen.

Nachdem Glückwünsche, Geschenkübergabe und Smalltalk abgehandelt waren, zog ich mich in mein Kinderzimmer zurück. «Muess no schaffe», sagte ich, zog die Tür hinter mir zu und legte FIFA 20 ein.

Zum ersten Mal seit 15 Jahren habe ich mir das neuste FIFA nicht gleich nach dem Release besorgt. Ich dachte, diese Zeiten sind vorbei.

Diese Zeiten, als ich mit meinem besten Freund FIFA spielte. Manchmal wurde er wütend und schmetterte seinen Controller gegen die Wand des Kellers. Oder ich sagte spät abends: «I bruch di nüme.» Und ging nach Verweigerung des versöhnlichen Handschlages nach Hause. Wir stritten uns fast nie. Ausser über Noelle, in Jerusalem vor zwei Jahren. Und immer bei FIFA-Abenden. Ich glaube, unsere Freundschaft ist nie zerbrochen, weil ab und zu ein Controller zerbrach.

Doch mein bester Freund wohnt inzwischen in Bern und ist Vater. Ich gehe nicht mehr die Strasse herunter, um mich mit ihm auf der PlayStation zu duellieren. Ich dachte, diese Zeiten sind vorbei. Ich dachte, wir sind langsam erwachsen geworden. Doch besondere Umstände erfordern eben besondere Massnahmen.

Ich starte einen Karrieremodus, weil mein bester Freund nicht hier ist und ich keine Lust habe, mich von 14-jährigen Freaks blamieren zu lassen.  

Beim Karrieremodus bestimmt man zunächst das Aussehen des virtuellen Trainers. Ich verbringe eine knappe halbe Stunde, um die passende Kieferbreite, Nasengrösse und Haarfarbe zu finden. Ich trage schliesslich Stiefel, Anzughosen, T-Shirt und Sakko. Das letzte Stück Selbstachtung stecke ich in FIFA 20. Im echten Leben laufe ich herum wie der Hinterletzte.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

GGestern spielte ich über acht Stunden PlayStation.

Bild: Pius Amrein (lz) / Luzerner Zeitung

Ich übernehme Bremen. Ich bin gross geworden mit dem grossen Werder. Meister 2004 mit Regisseur Johan Micoud. Vorne der schlitzohrige Ailton. Und an der Seitenlinie der ewige Thomas Schaaf. Das heutige Werder ist in einem erbärmlichen Zustand. Das soll sich ändern. Ich kaufe magathesk alles zusammen, was mir aus unzähligen einsamen Stunden auf transfermarkt.de so in den Sinn kommt. Königstransfer ist Santi Cazorla. Jaime Mata aus Getafe soll für Tore sorgen.

Nach über zwei Stunden bestreite ich endlich mein erstes Spiel. Ich verliere mit 0:3 gegen Fortuna Düsseldorf. Und ein wenig auch die Fassung. Nach drei Spieltagen habe ich einen Punkt auf dem Konto und bin Letzter.

Vierter Spieltag. Red Bull reist ins Weserstadion. Bis zur 30. Minute halte ich das 0:0, dann klopft es an der Zimmertüre. «Essen», sagt meine Mutter sanft. Ich bequeme mich zum Esstisch, wo ich in Rekordzeit eine Portion Pasta verdrücke. Anschliessend nicke ich ein paar Kommentare zur offenbar nach wie vor existenten Aussenwelt ab. Ich bedeute meiner Mutter, ins Zimmer zurückzukehren, indem ich entschlossen Teller und Besteck in die Küche bringe. Keine Minute später führt Leipzig mit 2:0.

Am siebten Spieltag ist es soweit. Maximilian Eggesteins Doppelpack sichert mir den ersten Dreier der Saison. Ich spiele wie ein junger Gott. Fast rhythmisch drücke ich die X-Taste. Meine Finger gleiten zur Vierecktaste, hinüber zu L1, X und dann die Kreis-Taste. Was Santana und Hendrix für die Musik waren, bin ich für die FIFA-Serie.

Es ist halb zwölf, als ich die PlayStation ausschalte. Ich verwerfe den Gedanken, über acht Stunden am Stück gespielt zu haben, schnell wieder. Und freue mich auf das nächste Spiel. Auswärts, in Wolfsburg.

Tag 22: Montag, 13. April

Liebes Tagebuch. Ich habe endlich Zeit. Viel Zeit.

Ich wasche Kleider, die seit Tagen im Waschtrog liegen. Ich lese Bücher, die mich seit Monaten vorwurfsvoll anblicken. «The Great Nowitzki» etwa. Ich lerne Dirk kennen. Und auch ein bisschen lieben. Poesie auf jeder Seite, in jedem Wurf. Ich lese die «Meistererzählungen» von Tschechow. Jesses.

Ich denke Gedanken, die seit Jahren anklopfen.

Ich habe Zeit, zu würdigen. Ich sah schon Fussballspiele am Böllenfalltor und im Bernabéu. War bei Charlton und beim Champions-League-Final. Ich erinnere mich. Ich bin überzeugt, man muss sich dann und wann erinnern. Sonst vergisst man. Es gibt so viel, das bleibt.

Ich betrachte das Wappen des Futbol Club Barcelona. Und jenes des Manchester United Football Club. Diese Symbole machen wieder etwas mit mir. Sie sind wieder Rivaldo und Beckham. Sie sind Videokassetten, Bravo Sport und länger aufbleiben.

Ich habe Zeit, zu lernen. Wie man einen Spargel-Poulet-Topf kocht. Wie ein Tumbler funktioniert. Ausdrücke. «Da isch wild!», sagt die Schwester meiner Freundin, wenn etwas verrückt ist.

Ich sehe viel genauer hin. Jemand schmatzt beim Essen oder sagt immer dasselbe Wort. Ich sage immer «herrlich». Ich sage noch viel öfter «herrlich», seit ich weiss, dass ich oft «herrlich» sage. Irgendwann versuche ich, zu übersehen und zu überhören.

Ich ruhe. Manchmal werde ich unruhig des Ruhens wegen. Da ist kein Hin und Her. Kein Hin- und Rückspiel. Kein Spiel, das hin- und mitreisst.

Ich wachse von innen, nicht von aussen. Erinnerung und Gedanke statt Erlebnis. Ich wachse im Licht der Wohnzimmerlampe. Nicht im Schein von Flutlichtmasten und Strassenlaternen.

Vier Wochen ohne Sport. Da isch wild! Vier Wochen sind nichts. Vier Wochen sind zehntausend Möglichkeiten.

Wenn alles an Tempo verliert, nehmen die Gedanken Fahrt auf.

Ich freue mich über vermeintlich kleine Dinge. Über einen Schoggihasen. Über das Sitzenbleiben nach dem Znacht. Über einen guten Song im Radio oder Videos über Wayne Rooney, der die Bälle ziemlich humorlos unter die Latte nagelt. Youtube empfiehlt mir solche Videos seit einiger Zeit seltsam aufdringlich.

Ich frage mich, was wirklich gross ist. Ich freue mich über grosse Dinge, die mal klein waren. Über einen Schoggihasen. Über das Sitzenbleiben nach dem Znacht. Über einen guten Song im Radio und Wayne Rooneys Tore auf Youtube.

Tag 21: Sonntag, 12. April

Liebes Tagebuch. Vor vier Wochen habe ich das Team gewechselt. Bei Lenzburg United stand ich auf dem Abstellgleis. Die 1. Infektionsgemeinschaft Zürichsee 05 zeigte Interesse und verpflichtete mich schliesslich für die stattliche Ablösesumme von einer Nintendo Switch samt Mario Kart sowie einem überdurchschnittlich guten Rührei.

Die Enttäuschung über das Ende meines kurzen Intermezzos bei der United hielt sich in Grenzen. Die IG Zürichsee ist eine eingespielte Truppe mit hervorragender Infrastruktur. Vor zwei Jahren bezog sie das neue Stadion in Stäfa, das über Terrasse mit Seeblick und Webergrill verfügt. Gegenwärtig befinden sich die Zürcher in der Saisonvorbereitung auf das normale Leben.

Die Tage gleichen sich. Wir tragen immer Trainerhosen. Wie das eben so ist in Trainingslagern. Morgens gibt es ein Workout auf der Terrasse. Die Squats schmerzen zu Beginn, werden aber nach und nach erträglicher. Nach dem Mittagessen – reichlich Kohlenhydrate – steht das Videostudium auf dem Programm. Wir sehen uns «Hangover» an. Wir analysieren die Fehler, um sie im nächsten Spiel zu verhindern.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Die Longstreet Road dürfte beim Saisonauftakt ausverkauft sein.

Bild: Matthias Scharrer / LTA

Am Nachmittag ist dann jeweils die Taktikschulung geplant. Der Schwerpunkt liegt momentan beim Verschieben der Murmeln, wenn eine Sieben gelegt wird. Auch die Rolle des Jokers haben wir uns schon angesehen.  

Regeneration ist wichtig. Irgendwann kommen wieder die langen Tage und die kurzen Nächte. Der Ausgang am Samstag und das ausufernde Mittwochabendbier. Englische Wochen eben. Deshalb gehen wir früh schlafen. Ich teile mir ein Doppelzimmer mit Melissa. Sie schnarcht manchmal, ist ansonsten aber eine angenehme Zimmerpartnerin. Gestern war sie beim Mannschaftsarzt, liess sich die Fussnägel lackieren.

Das Trainingslager macht Spass, wir wachsen zusammen. Doch wir können den Start ins normale Leben kaum erwarten. In der ersten Runde treffen wir auf die Infection Community Zurich City. Es ist ein Auswärtsspiel an der berühmt berüchtigten Longstreet Road. Sie dürfte restlos ausverkauft sein.

Tag 20: Samstag, 11. April

Liebes Tagebuch. Normalerweise erinnere ich mich nicht an meine Träume. Ehrlich gesagt bin ich nicht unglücklich darüber. Schon bei Bewusstsein habe ich alle Mühe, allzu desaströse Entwicklungen in meinem Leben abzuwenden. Es wäre höchst ärgerlich, müsste ich mich noch im Schlaf mit mir herumschlagen.

Aufgrund der Coronakrise sind meine Tage nun etwas kürzer. Ich schlafe länger. Und erinnere mich an meine Träume. Letzte Nacht habe ich von Yann Sommer geträumt.

Sommer und ich stehen vor einem Gate im Zürcher Flughafen. Warum auch immer. Offenbar präsentieren wir das neue Trikot der Schweizer Fussballnationalmannschaft. Denn Sommer trägt ein Torwarttenue und ich ein rotes Spielershirt.

Kameras und Handys sind auf uns gerichtet, Journalisten halten uns Mikrofone unter die Nase und irgendwelche Anzugträger hetzen herum. Wie das eben so ist im Fussball.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich träumte davon, wie ich zusammen mit Yann Sommer das neue Nati-Trikot präsentierte.

Bild: Anthony Anex / KEYSTONE

Ich bringe den Interviewmarathon souverän hinter mich. Meine Selbstsicherheit ist erstaunlich. Irgendetwas in mir scheint sich mit dem unwahrscheinlichen Fall befasst zu haben, dereinst eine Berühmtheit zu sein. Anders ist mein Auftritt nicht zu erklären. Ich bin eloquent und charmant. Es wird höchste Zeit, eine Berühmtheit zu werden.

Plötzlich stehen Sommer und ich in einem Lift und blicken uns im darin üblichen Spiegel an. Mir fällt auf, dass das Trikot ausschliesslich rot ist. Weder das Logo des Ausrüsters noch jenes des Fussballverbandes ist sichtbar. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich sämtliche Kantonswappen. Sie sind dunkelrot aufgedruckt. Ich sage zu Yann: «Wenni äs Goal schüsse, zeigi ufs Sangaller Wappe.»

Dann wache ich auf.

Ich hoffe, es handelt sich nicht um einen Hilfeschrei meines Unterbewusstseins.

Tag 19: Freitag, 10. April

Liebes Tagebuch. Heute assen wir draussen, auf der Terrasse, Zmittag. «S End vo ‹Haus des Geldes› isch so doof», sagte die Mutter meiner Freundin. «Nüt säge!», antwortete die Schwester meiner Freundin. Und ich hielt mir die Ohren zu, weil ich erst bei der zweiten Staffel bin. Eilig packte ich Teller und Besteck zusammen. Dass ich aber noch «Bogotá» und «Mailand» aufschnappte, konnte ich nicht verhindern. Ich verschwand in der Küche.

Wir alle waren heute Morgen in unseren Zimmern und schauten ‹Haus des Geldes›. Allerdings konnten wir nicht über den Professor und die Inspectora sprechen, weil alle an unterschiedlichen Stellen sind. Wir verpassten uns.

Ich denke sehnsüchtig an den Sport. Wenn wir Sport sehen, treffen wir uns. In vielerlei Hinsicht.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Über eineinhalb Millionen Menschen sahen am 22. Juni 2018 auf SRF zwei, wie die Schweizer Nationalmannschaft gegen Serbien gewann.

Bild: Michel Canonica

«Mach ihn, Xherdan!», sagte SRF-Kommentator Sascha Ruefer am Abend des 22. Junis 2018 in sein Mikrofon. Über eineinhalb Millionen Schweizerinnen und Schweizer hörten diese Worte. Über eineinhalb Millionen Schweizerinnen und Schweizer sahen und hofften dasselbe. Und über eineinhalb Millionen Schweizerinnen und Schweizer sprachen am nächsten Morgen über dasselbe. Im Zug oder Bus, im Büro oder in der Schule.

Der Sport ist die grosse Gleichzeitigkeit. Die kollektive Hoffnung, dass etwas geschieht, das bleibt. Ich fand das immer faszinierend. Jetzt noch ein bisschen mehr.

Tag 18: Donnerstag, 9. April

Liebes Tagebuch. In den letzten Tagen habe oft Brändi Dog gespielt. In den letzten Tagen habe ich mich noch viel öfter geärgert.

Brändi Dog ist eine Art Eile mit Weile. Nur spielt man zu zweit gegen ein anderes Team. Die Mutter meiner Freundin und ich bildeten das eine Team, meine Freundin und ihre Schwester das andere.

Wir verliessen mit einem König den Zwinger, schickten einander mit einer Sieben nach Hause, hofften auf einen Joker, aber bekamen nur eine Zwei. Während diesen Kartenschlachten ist mir aufgefallen, dass nicht alle gleich spielen.

Muriel, die Wachsame: Muriel ist die kleine Schwester meiner Freundin. Sie provoziert subtil. Wenn jemand einen König legt und mit der Murmel dreizehn Felder voranschreitet, zählt sie leise, aber doch öffentlichkeitswirksam mit. Jeder soll mitkriegen, dass ihr nichts entgeht. Dass sie misstraut. Sie schenkt niemandem ein Lächeln. Ein Lächeln ist für sie nichts, das man schenkt. Ein Lächeln scheint für sie vielmehr ein Reflex zu sein. Actio und Reactio. Kein Lächeln ohne Schönheit oder Witz. Keine gegnerische Handlung ohne Kommentar. «Guet mische isch was anders.» Sie ist klug und unerbittlich. Muriel hat oft seltsam gute Karten. Irgendetwas stimmt da nicht.

Meine Freundin, die Lockere: Meine Freundin nervt mich mit Abstand am meisten. Sie gewinnt immer. Und das mit einer unerträglichen Nebensächlichkeit. Es ist nicht einmal eine aufreizende Nebensächlichkeit, über die man sich noch zu Recht ärgern könnte. Sie verzichtet auf jede Art von Provokation. Ihr bedeutet das alles nicht so viel. Und gewinnt trotzdem. Oder gerade deshalb? Meine Freundin könnte irgendeine Weltmeisterschaft gewinnen, die Armut oder das Coronavirus besiegen. Sie würde kurz in die Kamera grinsen und dann gehen. Auf ein Bierchen oder ins Bett, um ein Hörspiel zu hören.

Manuela, die Kompromisslose: Die Mutter meiner Freundin spielte schon Karten, als es uns noch nicht gab. Allerdings nie Brändi Dog. Dieses Teufelsspiel erlernte sie erst vor wenigen Tagen. Dann und wann tut sie sich noch schwer mit den Regeln. Entsprechend startet sie jeweils schlecht ins Spiel. Sobald sich Widerstand regt, spielt sie nicht für sich und das Team, sondern vor allem gegen ihre Töchter. Allein dieser Umstand qualifiziert sie, um in meinem Team mitzuwirken. Wir verlieren immer. Weil wir noch nicht alle Karten kennen. Und weil jene vom anderen Team auffällig gut sind. Wirklich, irgendetwas stimmt da nicht.

Ich, der Verbissene: Mir ist wichtig, dass es anderen auch wichtig ist. Ein heroischer Brändi-Dog-Sieg ist nichts wert, wenn meine Kontrahentinnen fortwährend gähnen oder aufs Handy blicken. Selbst in der Auseinandersetzung des Wettkampfs giere ich nach Bestätigung. Mir gefällt, wie Brändi Dog es schafft, einen Keil zwischen diese Familie zu treiben. Mir ist klar, dass dies desaströse Erkenntnisse sind.  Tief in mir drin ist mir ebenfalls klar, dass ich ein komplett talentfreier Spieler bin. Diesen Umstand überspiele ich, indem ich andauernd das Spielgeschehen wie ein Fussballkommentator einzuordnen versuche. Ich spreche etwa von einer «spielentscheidenden Phase», wenn jemand seine zweite Murmel nach Hause gebracht hat.

Christoph, der Verweigerer: Christoph ist der Freund der Mutter meiner Freundin. Jesses. Jedenfalls: Er wird für gewöhnlich gar nicht gefragt, ob er mitspielen wolle. Und wenn doch, dann drückt er sich, indem er Sätze sagt, die nicht einmal er selbst glaubt. «I muess no was erledige.» Oder: «S nögst mol spieli mit.» Und alle, die diesen flüchtigen Konversationen lauschen, wissen, dass er das nächste Mal nicht mitspielen wird.

Tag 17: Mittwoch, 8. April

Liebes Tagebuch. Der Alltag war bisher auch nur zu ertragen, weil man sich dann und wann etwas ablenken konnte. Raus aus dem immergleichen Büro mit den immergleichen Menschen und Aufgaben. Hinein in Konzertsaal oder Bar, hinein ins Stadion. Die ständige Flucht vor dem Bewusstsein des eigenen Scheiterns.

Von Zeit zu Zeit erahne ich nämlich die Tristesse, die meinem Leben droht. Wenn man so will, habe ich sie ja schon stillschweigend akzeptiert, als ich begann, Journalismus zu studieren. Ich bin Passagier eines sinkenden Schiffes.

Doch wenn Sport lief, wenn ich darüber las und nachdachte, war ich mehr als der perspektivlose, chronisch unzufriedene Mittzwanziger. Im April, wenn jeweils die Eishockeyweltmeisterschaften stattfinden, war ich immer ein bisschen Roman Josi. Alle zwei Jahre war ich im Sommer Fabian Schär oder Xherdan Shaqiri. Und während Wimbledon ein wenig Roger Federer.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Im Sommer bin ich immer auch ein wenig Xherdan Shaqiri.

Walter Bieri / KEYSTONE

Im Jahr 2020 bin ich nur noch ich. Und mir selbst überlassen. Im Jahr 2020 verbringe ich viel zu viel Zeit mit mir und viel zu wenig mit Roman Josi, mit Fabian Schär und Xherdan Shaqiri. Mit Roger Federer. Ich denke stattdessen Gedanken, die seit Jahren anklopfen.

Und stelle fest: Mir geht es ein bisschen beschissen ohne Sport. Denn ich bin ein bisschen aufgeschmissen ohne Sport.

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Tag 16: Dienstag, 7. April

Liebes Tagebuch. Seit Tagen vegetiere ich dahin. Die Dusche kenne ich nur noch vom Hörensagen. Die Trainerhosen sind übersät von Flecken aller Art. Ich bin in einem erbärmlichen Zustand. Selbst meine Haare wollen nichts mehr mit mir zu tun haben und fallen allmählich aus.

Ich entscheide, mein Leben in die Hand zu nehmen. Und gehe joggen. Ich war seit Jahren nicht mehr joggen. Ich hatte halt viel zu tun. Und überhaupt: viel zu trinken. Insgeheim hoffe ich, die Laufschuhe sind nicht mehr zu gebrauchen. Doch sie glänzen mich trotzig an.

Mein Körper revanchiert sich für meine fahrlässige Haltung. Nach wenigen hundert Metern keuche ich wie ein Hund. Ich werfe Menschen, die nicht mit mindestens zehn Kilometern pro Stunde unterwegs sind, unnachgiebige Blicke zu. Eine Gruppe Halbstarker spaziert unbeeindruckt von den bundesrätlichen Weisungen um den See. Ich habe dieses spiessige Verlangen, sie zurechtzuweisen. Schliesslich remple ich den Typen mit Zigarette an. «Aus Versehen», wie ich später beim Abendessen berichte.

Jemand trägt einen Faserpelz von Jack Wolfskin. Wer nicht gerade mindestens eintausend Höhenmeter zu bezwingen hat, hat keinerlei Recht, einen Faserpelz zu tragen. Es ist ein Verbrechen, sich aus optischen Beweggründen für einen Faserpelz zu entscheiden.

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Heute joggte ich um den Lützelsee.

Doris Reuter/Zo / LTA

Meine Laune wird besser, als mir jemand entgegenkommt, der mir den Atem raubt. Er ist grossgewachsen und sportlich, trägt ein blaues Shirt des deutschen Sportartikelherstellers Puma. Auf Brusthöhe sind zwei Raubtiere abgebildet, an den Ärmeln ebenfalls. Ich beisse mir lustvoll auf die Unterlippe, stelle mir vor, was ich mit diesem Prachtsexemplar anstellen würde. Ich würde es zu Tode schwitzen.

Als uns nur noch zwei Meter trennen, treffen sich unsere Blicke. Ich schenke ihm ein verlegenes Lächeln. Verstohlen drehe ich mich um. Endlich kann ich ihn von hinten sehen. Was für ein Anblick! Er entfernt sich. Ich versuche, mir dieses Bild einzuprägen. Für einsame Stunden.

Auf blauem Grund steht geschrieben: Vardy. Und darunter: die Nummer neun. Ich bin verliebt. In dieses Trikot.

Übrigens: Das Spiel gegen Simon ging 2:2 aus.

Tag 15: Montag, 6. April

Liebes Tagebuch. Siri ist aufdringlich. Obschon ich nicht Auto fahre, berechnet sie mir täglich die schnellste Route zum Arbeitsplatz. Sie hält offenbar viel von mir und glaubt, ich habe nun endlich den Führerschein gemacht. Letzten Samstag fragte sie mich, ob ich am nächsten Tag einen Wecker für acht Uhr morgens stellen wolle. Ich verzichtete. Eine der Begleiterscheinungen dieser Zeit: Es spielt keine Rolle, wie spät es ist. Der Sport ist ja nicht mehr da. Ich weiss nicht, woran ich mich jetzt festhalten soll.

Heute rieb Siri mir ungefragt unter die Nase, dass ich letzte Woche oft am Handy war. Sie schrieb: «Deine Bildschirmzeit betrug in der letzten Woche durchschnittlich 5 Stunden und 58 Minuten/Tag.» Ich erinnere mich nicht, ihr das Du angeboten zu haben.

Jedenfalls: Ich weiss, fünf Stunden und 58 Minuten sind viel. Ich spüre bereits Ihre vorwurfsvollen Blicke, liebe Leserinnen und Leser. Ich will gar nicht wissen, wie viele Zimmer Sie in dieser Zeit geputzt, wie viele Kilogramm Sie abgenommen, wie viele Bücher Sie gelesen haben. Verschonen Sie mich mit diesen Selbstgefälligkeiten. Ich halte Ihnen entwaffnend entgegen, dass ich in jenen fünf Stunden und 58 Minuten auf der App «Score! Hero» mit der Schweiz Fussballweltmeister wurde. Ja, gern geschehen.   

Und vielleicht habe ich während diesen fünf Stunden und 58 Minuten auch Kochrezepte nachgeschlagen, Einkäufe für die Nachbarn notiert und Bücher bestellt. Vielleicht auch nicht.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Letzte Woche war ich pro Tag im Schnitt fünf Stunden und 58 Minuten am Handy.

Andrew Gombert / EPA

Natürlich nicht.

Die sogenannte Bildschirmzeit dürfte schon bald die Sechs-Stunden-Marke überschreiten. Ich habe mir heute nämlich den «Online Soccer Manager» runtergeladen. Auf meinen vielen Reisen durch Instagram bin ich auf diese App gestossen. Ich liess Simon, meinen besten Freund, wissen, dass ich nun «OSM» spiele. «Bi scho mini Ufstellig am mache», antwortete er nach gut zwei Minuten. Und nun wissen Sie, weshalb er mein bester Freund ist.

Er trainiert den SC Freiburg, ich den 1. FC Köln. Heute Abend kommt es bereits zum Direktduell. Im Laufe des Tages versichern wir uns, gar nichts, aber auch wirklich gar nichts unversucht zu lassen, um dieses Spiel zu gewinnen. Wir schreiben hin und her.

«I werd muure hüt Obig.»

«De Terodde wird dir d Bäll eso um d’Ohre bölze.»

«Min Spion isch unterwegs.»

«Renato hat ein Bild (Oliver Kahn zeigt den Mittelfinger) gesendet.»

«Mies, hesch e Gheimtraining ahgsetzt.»

«I ha mi müsse froge: Will i jetzt scho alli Ressource verbrötle, nur um di z’bezwinge? Und i ha müsse sege: Es het selte so e klars ‘Jo’ geh i mim Lebe.»

Heute Abend um Viertel nach zehn steigt das Spiel. Zu behaupten, meine Stimmung in den nächsten Tagen hängt vom Ausgang dieser Partie ab, wäre eine törichte Untertreibung.

Tag 14: Sonntag, 5. April

Liebes Tagebuch. Heute habe ich endlich wieder Fussball gesehen. Gedanken eines sehnsüchtigen Nachmittags auf SRF zwei.

Die Finalissima 2006 also. Man nimmt ja, was man kriegen kann. Gestern habe ich einlagiges WC-Papier gekauft. Die Ansprüche sinken.

Man weiss, wo man war, als Filipescu in der 93. Minute den FC Zürich zur Meisterschaft schoss. Ich war im Zimmer meines grossen Bruders, der nicht zu Hause war. Ich schaute auf seinem neuen Röhrenfernseher zu. Mein Gott, ich werde alt.

Favre trägt Anzug, Mütze und weniger Falten im Gesicht. Er wirkte schon damals nachdenklich. Die Melancholie hat ihn also nicht erst in Deutschland heimgesucht.

Die Zuschauer schauen auf das Spielfeld und nicht auf das Display ihres Handys. Damals hiessen die Dinger ja noch «Natel» und waren von Nokia. Und wenn man einmal versehentlich ins Internet ging, war man finanziell ruiniert.

Die Spieler stopfen ihre Trikots fein säuberlich in die Shorts. Die Schuhe sind meist schwarz oder weiss. Und noch nicht neongelb, neongrün oder was auch immer. Schön.

Das Spiel ist unabhängig vom sich abzeichnenden Drama herrlich. Der Rasen ist nass, alle zwei Minuten grätscht irgendeiner irgendjemanden um und trifft viel Bein und wenig Ball. Sehr schön.

Ich ertappe mich beim Gedanken, dass der FC St. Gallen in der letzten Runde in Bern spielen wird. Spielen würde. Oder gespielt hätte. Jesses. Eine Finalissima beim Meister. Der Titel im Wankdorf … Ach, lassen wir das.

Meine Freundin bringt mir ein Glas Weisswein. Schön.

Filipescu sieht aus wie ein Türsteher eines Nachtclubs, in den man nicht so schnell reinkommt. Filipescu grätscht und köpft zuverlässig alles ab, was da geflogen kommt. Bälle, Gegenspieler, Wandschränke. Filipescu entscheidet sich im Zweifelsfall gegen gutes Stellungsspiel und für die Blutgrätsche. Sehr, sehr schön.

Es ist seltsam, ein Spiel zu sehen, dessen Ausgang bekannt ist. Die Unberechenbarkeit ist schliesslich die Stärke des Sports. Allerdings habe ich mir auch schon mehrfach die Wiederholung von Spielen angesehen. Zuletzt das 3:3 zwischen St. Gallen und YB. Ich bin ein wenig süchtig nach Ah’s und Oh’s. Nach Torschrei und Selbstvergessenheit.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Filipescu traf am 13. Mai 2006 in der 93. Minute zum 2:1 für den FCZ, der dadurch zum ersten Mal seit 25 Jahren Meister wurde.

Bild: Keystone

Keita trifft. Ich frage mich, ob er im Abseits stand. Es gab noch keinen VAR. Es war gut so. Keita jubelt ohne Zögern, weil niemand im Volketswiler Keller nach Millimetern oder Schubsern, nach dem Haar in der kochenden Suppe sucht.

Luca ist FCZ-Fan. Er schreibt mir: «Heute gewinnen sie nicht einmal mehr gegen Lugano.»

Die Spieler klatschen sich ab, im Publikum sitzen und stehen Menschen nah beieinander. Im Frühjahr 2020 fühlt sich das falsch an. Mein Gewissen ist neu. Es sitzt zu Hause und meidet andere Menschen. Es ist faul. Ich kann mich durchaus für mein neues Gewissen begeistern.

Für Schweizer Verhältnisse standen grossartige Fussballer auf dem Platz. Von Bergen, Inler und Dzemaili spielen klug und prägten die Nationalmannschaft in den nächsten Jahren. Raffael deutet bis zur Auswechslung an, dass er etwas mehr sieht als der Rest. Petric ist mutig und schiesst überdurchschnittlich oft und gut. Delgado hat wunderbare Einfälle und bleibt manchmal allein damit. Ergic ist elegant und Chipperfield energetisch.

Viel ist seither passiert.

Ich habe viel zu lange kein Pfeifkonzert mehr gehört. Ein Pfeifkonzert ist etwas schrecklich Schönes.

Christian Gross jubelt so unbeschwert, wie Christian Gross eben unbeschwert jubeln kann.

Filipescu senst Papa Malick Ba in der 83. Minute um und ich bin gerührt.

Im schlechtesten Fall ist Fussball Ablenkung. Im besten Fall ist Fussball das Allerallerallerallerschönste.

Tag 13: Samstag, 4. April

Liebes Tagebuch. Heute wäre Spieltag.

Simon und ich gehen ins Rockstory. Im Rockstory ist vierzig näher als zwanzig. Im Rockstory sind die meisten Fragen beantwortet, hier werden wir alt. Jan und Luca sind schon da. Als Jan sein Zweites holt, kommen Adi und Dani. Danis Schuhe sind neu und weiss. Wir alle wissen, dass er nicht mehr in den Ausgang kommt. Luca macht ungeheuerliche Witze und wir lachen im Stillen. Wir reden kaum über die Gegenwart, erzählen uns stattdessen alte Geschichten. Von Hooligans in Leverkusen und Russinnen auf Kreta.

Wir sehen uns nur noch selten. Simon wurde Vater und ein bisschen Berner. Ich bin im Aargau und in Zürich und nur noch selten zu Hause. Spieltag, Bravo-Hits-Party, Open Air. Der behäbige Rhythmus unserer Freundschaft.

«Toooooor in Leverkusen!», ruft der Kommentator. Xaver Schlager hat Wolfsburg in Führung geschossen. Oliver Glasner jubelt an der Seitenlinie und Luca in der Bar. Luca ist nicht Fan der Wölfe. Aber er hat Schlager in seinem Kickbase-Team. Eine App, in der man eine eigene Mannschaft zusammenstellen kann. Wenn Schlager trifft, kriegt Luca viele Punkte. Ende Saison wird abgerechnet. Wir alle haben ein paar Franken investiert. Aber eigentlich noch viel mehr. Zeit und Herzblut.

In der Pause läuft Musik. «Jack and Diane» und «Mr Jones». Ich gehe mit Jan eine rauchen. Ich rauche nur, wenn ich einen «Chlapf» habe.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Wir gehen seit bald zwei Jahrzehnten an die Heimspiele des FCSG.

Bild: Keystone

Um halb sechs schlendern wir zum Bahnhof. Träge von Bier und Abendsonne. In einer Stunde spielt Dortmund gegen Bayern. Simon sieht sich die Aufstellungen an: Gnabry und Thiago, wichtige Stützen in seinem Kickbase-Team, sitzen auf der Bank. Er reagiert ungehalten.

Wir besorgen uns eine Dose auf den Weg. Jan sagt: «Git hüt en Heimsieg.» Und lacht. Vor dem Stadion trifft Simon seinen Vater. «Ladsch d’Jungs i», sagt er und drückt ihm ein grünes Nötli in die Hand.

Obschon der FC St. Gallen Tabellenführer ist, rechnen wir stets mit dem Allerschlimmsten. Wir gehen seit bald zwei Jahrzehnten ins Stadion. Sahen Abstiege, Gummischrot und zig Spieler kommen und gehen. Wir haben gelernt, nicht des Spiels wegen ins Stadion zu gehen. Wir sitzen im Sektor B. Weil uns alles etwas einerlei wurde. Und weil wir Bünzlis sind und aufs Portemonnaie schauen.

Luca macht ungeheuerliche Witze. Wir lachen nicht mehr nur im Stillen. Jan sagt: «Git hüt en Heimsieg». Und meint es ernst. Wir reden über Dinge, die sich zumindest tiefgründig anfühlen. Über Anja und Michelle. Über alles und nichts. Wir schmieden Pläne, die wir nie umsetzen werden.

Das alles ist so schrecklich weit weg.

Tag 12: Freitag, 3. April

Die Mutter meiner Freundin hat heute einen Töggelikasten auf die Terrasse stellen lassen. Und damit dürfte sie nicht mehr nur die Mutter meiner Freundin sein, sondern meine künftige Schwiegermutter. Sie wissen noch nichts von ihrem Glück.

Ich befürchte einen unkontrollierten Heiratsantrag meinerseits. Im Übermut der wohligen Abendsonne, die auf mein hoffentlich baldiges Wohlstandsbäuchlein scheint. Im Übermut des dritten Biers und des vierten Sieges am Töggelikasten. Mir ist vollkommen klar, dass sie ablehnen würde. Es wäre nur ein verzweifelter Versuch, das flüchtige Glück festzuhalten.

Am Nachmittag fragt meine Freundin, ob ich «Federball» spielen wolle. Federball. Ohne Netz und ohne Punkte. Wer macht denn sowas? Spielen des Bewegens wegen. Wahnsinn. Ich begrabe den Wunsch nach dem Bund fürs Leben fürs Erste.

Stattdessen öffne ich «Score! Hero» auf meinem Handy. Ich werde Weltmeister und Weltfussballer. Chelsea und Napoli buhlen um mich. Ich gehe schliesslich nach Italien. «Wegen dem Essen und den heissblütigen Tifosi», schreibe ich Simon ungefragt. Ich ertappe mich dabei, wie ich wirklich ein wenig stolz bin.Den Screenshot des Weltfussballertitels, zweifelsfrei ein Dokument der Zeitgeschichte, sende ich einigen Freunden. Die Nachrichten bleiben unbeantwortet.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Joris sendet mir Bilder von ehemaligen Bundesligaspielern. Zum Beispiel Marek Mintal.

Bild: Keystone

Joris sendet unangekündigt ein Bild vom jungen Horst Heldt bei 1860 München. So läuft es seit Tagen. Wir verschicken uns Bilder von irgendwelchen Bundesligaspielern Anfang der Nullerjahre. Jens Jeremies, Frank Rost, Marek Mintal. Es ist keine Selbstvergewisserung. Vielmehr wählen wir immer Spieler, die der andere kennen könnte. Ausserdem hat er ein gutes Timing. «Joris hat ein Bild gesendet» erscheint meist dann, wenn ich mich ein bisschen einsam fühle.

Am Abend skype ich mit ein paar Freunden. Wir trinken Bier oder Wein und sprechen ins Handy. Ich nicke ein paar ungeheuerliche Witze ab. Wir sprechen kaum über Sport. Stattdessen über die Arbeit. Oder was davon übriggeblieben ist. Wir sprechen über uns. Oder was davon übriggeblieben ist.

Tag 11: Donnerstag, 2. April

Liebes Tagebuch. Heute spaziere ich allein durch das Quartier. Vorbei an der Hühnerstelle, wo ich mit Fabio und seinem Vater ein Baumhaus baute. Weiter zum Restaurant Kräzern und dann hoch zum Hof. Wo Simona, Benjamin und Sandro wohnten. Wo wir im Frühling Räuber und Poli und im Herbst Wahrheit oder Pflicht spielten.

Ich gehe zum Fussballplatz. Die Sonne malt Schweissperlen und Sommersprossen auf meine blasse Haut. Es ist warm, doch manchmal geht ein kühler Wind. Heute treffen sich Sommer und Winter. Heute treffen sich Anfang und Ende. Es riecht nach Grill und frischgemähter Wiese. Es riecht ein bisschen wie früher.

Früher, als wir oben, im Hof, Fussball spielten. Alain stand im Tor. Unser Juniorentrainer sagte einmal, Torhüter und linke Flügelspieler seien «nöd ganz normal». Er hatte recht. Nemanja konnte dribbeln und schiessen wie kein Zweiter. Er trug immer ein Trikot von Manchester United mit seinem Namen auf dem Rücken. Alexander spielte beim FC St. Gallen und selten ab. Wir anderen waren ganz passabel. Wir anderen fragten uns gar nicht, was gut und schlecht war, was morgen oder übermorgen ist.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Wir verbrachten ganze Tage auf dem Fussballplatz.

Bild: Matthias Kessler / LTA

Manchmal sahen Noelle und Simona zu. Und wir kämpften nicht mehr nur um Bälle.

Irgendwann kam Ali mit seinen Zwillingen. Ali wohnte gleich neben dem Platz, war Libanese und knapp 50. Gelegentlich fragte er, ob er mitmachen dürfe. Obschon wir barfuss spielten, dachte er gar nicht erst daran, seine Fussballschuhe auszuziehen.

Wenn der Ball über das mehrere Meter hohe Metallnetz in den Wald flog, suchten wir, langten in Brennnesseln oder stiegen hinunter zum Bach, der durch einen Wald floss.

Vor den Prüfungen nahmen wir die Mathebücher mit. Sie beruhigten Eltern und Gewissen. Wir öffneten sie kein einziges Mal.

Unsere Mütter sagten, bei Einbruch der Dunkelheit müssten wir zu Hause sein. Meistens kamen wir, als die Strassenlaternen ihren Dienst längst aufgenommen hatten. Keuchend und verschwitzt, die nackten Fusssohlen voller brauner Erde.

Als ich von meinem Spaziergang zurückkehre, sind meine Fusssohlen nicht nackt. Und auch Ali war nicht dabei. Aber ich lächle in mich hinein. Es ist ein bisschen wie früher.

Tag 10: Mittwoch, 1. April

Liebes Tagebuch. Gestern verabredete ich mich, um online Mario Kart zu spielen.

Bei Mario Kart weicht man wahnsinnig lachenden Clowns aus. Man wird von bunten Schildkröten abgeschossen und von kleinen Drachen überholt. Es ist offensichtlich, dass die Programmierer unter Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen standen. Anders ist all das ja nicht zu erklären.

Wir spielen zu dritt: Adrian, meine Freundin und ich. Adrian sitzt in St. Gallen, meine Freundin und ich in Zürich. Über Skype sprechen wir miteinander. Ich sage Adi, er fahre für den Rennstall Säntis. Und zu meiner Freundin: «Wir sind die Scuderia Zürisee.» Betretenes Schweigen.

Adrian ist ein Spieler. Listig, fast durchtrieben. Er gewinnt immer. Egal, ob wir Monopoly oder Yatzy spielen. Man könnte ihm eine gewisse Intelligenz unterstellen und gratulieren. Man könnte ihm aber auch bei nahezu jedem Spiel unterstellen, er hätte geschummelt. Freilich entscheide ich mich stets für letztere Variante.

Meine Freundin ist aber die zweifellos beste Fahrerin. Sie gewinnt meistens, wenn wir Mario Kart spielen. Und dabei wirkt sie, als sei das alles gar nicht so wichtig. Natürlich ist es das. Es ist extrem wichtig.

Ich wähle wie immer den rücksichtslosen Griesgram Wario. Er widerspiegelt meinen Charakter am besten.

Nach drei Rennen habe ich keine Chance mehr auf den Gesamtsieg. Die letzte Strecke ist die Wario-Abfahrt. Wir – eigentlich nur ich – nennen diese Piste ehrfürchtig Königsetappe. Sie ist die Alpe d’Huez im Mario-Kart-Rennkalender. Wer hier siegt, bleibt in Erinnerung. Ich manövriere meinen Sauseschuh auf Slicks schumacheresk über Eis und Schnee. Kurz vor dem Ziel bin ich Zweiter. Ich schiesse meine Freundin auf der Zielgeraden mit einer grünen Schildkröte ab. Es gibt weiss Gott kaum etwas Schöneres, als einen nahestehenden Menschen mittels präzise geworfener Schildkröte um den Sieg zu bringen.

Ich gewinne die Wario-Abfahrt, meine Freundin den Stern-Cup. Ich bin ein kleines Bisschen glücklich.

Tag 9: Dienstag, 31. März

Liebes Tagebuch. Ich habe allmählich einen Dachschaden.

Heute Morgen telefoniere ich mit einem Freund. «Es ist ein grossartiger Zeitpunkt, um ein Praktikum in einer Sportredaktion zu machen», sage ich ihm. Ich lache erst verbittert, dann hysterisch.

Anschliessend bestelle ich Fifa 20 für die PlayStation. Der Kauf ist innerhalb von einer halben Minute abgewickelt. Ich beeile mich, weil ich fürchte, mich noch umzuentscheiden. Die Ausgaben meines exzessiven Studentenlebens lassen eigentlich keine derartigen Ausgaben zu. Ich verschicke einige Nachrichten, drohe mit Krieg auf dem virtuellen Rasen.

Um halb eins habe ich bereits mein zweites Glas Weisswein getrunken. Ich schreibe meinem Freund: «Es ist ein grossartiger Zeitpunkt, um ein Praktikum in einer Sportredaktion zu machen.» Ich lächle zufrieden.

Ich schaffe bei «Score! Hero» endlich, endlich Level 137. Ich juble in einer bedenklichen Unverhältnismässigkeit. Meinem Blick wohnt etwas Wahnsinniges inne. «Guet», sagt meine Freundin teilnahmslos. Ich erwidere erbost: «Guet isch e Cremeschnitte!» Wie das ein bünzliesker Schweizer, der etwas auf sich hält, eben so tut. Ich sage auch «Messi» statt «Merci». Nur heute schmerzt es. Es zieht im Bauch. Wie damals, bei Jessica. Es ist das Ziehen des Liebeskummers.

Manchmal erahne ich, dass ich einen Dachschaden habe. Ich muss schliesslich seit 26 Jahren mit diesem unausgeglichenen Idioten klarkommen. Nur konnte ich bis anhin all den Mist beim Sport rausschreien.

Aber jetzt ist jeder Tag gleich. Jeder Tag wie ein «Fiirtiig», wie die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Nur ohne Boxing Days oder Spenglercup. Die Tage sind besser, wenn am Abend Köln gegen Schalke spielt. Die Tage sind noch viel besser, wenn ich am Abend ins Stadion gehe. Es ist zwar beschissen, wenn St. Gallen verliert. Oder schlimmer noch: 0:0 spielt und ich mich nicht bemitleiden kann. Aber diese Tage sind etwas. Sie sind wunderschön und beschissen. Aber nie gleich.

Tag 8: Montag, 30. März

Wir sitzen vor dem Fernseher oder am Esstisch, sprechen über Wetter und Virologen. Über Deutschlands nächstes Topmodel und Trump. Wir sprechen nicht über Sport.

Liebes Tagebuch. Ich kann nicht viel. Ich weiss nicht, wie man dübelt. Ich kann weder ein Auto noch Excel bedienen, interessiere mich weder für links noch für rechts. Weiss bisweilen nicht einmal, wo oben und unten ist. Aber ich weiss, was es heisst, wenn die Grünen ein Tor schiessen. Ich weiss, wer der Mann aus Sursee und was ein füdliblutter Wahnsinn ist.

Ich vermisse nicht die Spiele oder Wettkämpfe, nicht diese 90 Minuten oder fünf Sätze. Ich vermisse es, darüber zu sprechen. Ein Schwatz über Sport ist eleganter Smalltalk. In der Kantine oder beim Raucherplatz fragen wir einander: «Hesch s Spiel gseh?» Und dann reden wir über Neymar und Ilicic. Wir, das sind Momo und ich. Er ist über 50, Logistiker aus Ägypten. Ich Mitte 20, Student.

Seit mein bester Freund weggezogen ist, sehe ich ihn nicht mehr oft. Wenn ich ihn treffe, sehen wir uns meistens ein Spiel an. Wir sprechen über Hinteregger und Hütter. Nach dem zweiten Bier sind wir bei Kindern und Verlustängsten. Und ein bisschen näher beieinander. Der Sport hält viele von uns ein bisschen zusammen. In sich und untereinander.

Er fehlt.

Tag 7: Sonntag, 29. März

Liebes Tagebuch. Heute hatte ich ein wichtiges Spiel gegen den Kater.

In den letzten zehn Jahren sind wir schon dutzende Male aufeinandergetroffen. In den unterschiedlichsten Stadien. An einem Neujahrstag in London. In einem Madrider Fünfsternehotel. Am Strand in Spanien. Oftmals in meinem Kinderzimmer.

Die Bilanz spricht für den Kater. Vor allem in den ersten Spielen war er jeweils haushoch überlegen. Ich bezahlte Lehrgeld, es war zum Kotzen. Im Laufe der Jahre lernte ich allerdings aus meinen Fehlern und war irgendwann ebenbürtig. Wie geht es heute aus?

In den ersten Stunden macht der Kater Druck. Mein Kopf ist überfordert. Ich reagiere früh und bringe den erfahrenen Alka Seltzer. Er soll mich stabilisieren. Der Kater zeigt sich jedoch unbeeindruckt. Ein Schweissausbruch nach dem anderen rollt auf mich zu.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Am Samstagabend hatte ich zu viel getrunken.

Bild: Susann Basler © TZ

Mit der Einnahme des thailändischen Mittelfeldspielers Thai Curry schiesse ich mir ein Eigentor. Die Führung für den Kater.

Ich gehe an die frische Luft und verpflichte an der Tankstelle einen torgefährlichen Energy Drink. Red Bull ist ein grossgewachsener Österreicher aus robustem Aluminium. Im Abnützungskampf gegen den Kater eine sinnvolle Investition. Bull bekommt aber keine Eingewöhnungszeit, muss sofort liefern. Ich bringe ihn um vier Uhr nachmittags.

Dem Kater geht die Puste aus, die Zeit läuft für mich. Bull gleicht aus. Der routinierte französische Spielmacher Bouillon dreht schliesslich das Spiel zu meinen Gunsten.

Tag 6: Samstag, 28. März

Liebes Tagebuch. Ich spreche alltägliche Gegenstände wie ein englischer Fussballkommentator aus.

Ich hatte Langeweile, besuchte Youtube und schaute mir Videos an, die man sich halt so ansieht, wenn man Langeweile hat. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass sich jeder halbwegs normale Mensch in regelmässigen Abständen das Elfmeterschiessen des Champions-League-Endspiels 2001 zu Gemüte führt. Oder Wayne Rooneys Siegtreffer gegen Milan im Halbfinal 2007. Allgemeinwissen. Man weiss, wer die sieben Bundesräte sind. Weiss, was Rezession bedeutet und wie die Hauptstadt von Australien heisst.

Und man weiss, was sich am 12. Mai 2013 an der Vicarage Road zugetragen hat.

Rückspiel im Halbfinal-Playoff der zweithöchsten englischen Spielklasse. Watford gegen Leicester. Leicester gewann das Hinspiel mit 1:0. Weil es nach 96 Minuten 2:1 für Watford steht, wären die Foxes aufgrund der Auswärtstorregel im Final um den letzten Premier-League-Platz. Leicesters Anthony Knockaert tritt gleich einen Elfmeter. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass Watford das Ding noch dreht.

Doch Torwart Manuel Almunia pariert Strafstoss und Nachschuss. Befreiungsschlag. Der eingewechselte Fernando Forestieri kommt im rechten Couloir an den Ball, flankt in den Strafraum, wo Jonathan Hogg auf den heransprintenden Troy Deeney zurücklegt.

«Deeneeeeeeey!», ruft der Kommentator. Und dieser Deeney zimmert den Ball mittels Dropkick unter die Latte. Ekstase, die Zuschauer stürmen den Rasen. Watford ist weiter. Diese knappe halbe Minute reicht, um begreiflich zu machen, wie bittersüss und grossartig und wunderschön der Fussball sein kann.

Nun ja. Am Nachmittag frage ich meine Freundin, ob sie ein «Käfaleeeeeeeeey» wolle. Und abends, beim Znacht, mustere ich das selbstgemachte Bananenbrot. Ich halte inne, hole tief Luft. Und sage: «E herrlichs Bananebrötleeeeeeeeeey.»

Tag 5: Freitag, 27. März

Liebes Tagebuch. Gestern lag ich neben meiner Freundin im Bett. Träge vom sinnsuchenden Alltag und dem dritten Glas Weisswein. Wir hörten «The Scientist» von Coldplay. Das Selbstmitleid des ziellosen Sportjournalisten im Frühjahr 2020.

Sie fragte, wie es mir ginge.

«Es tuät eifach verdammt weh weg äm FC Sanggalle.»

«Da hesch mir imfall di letzte drü Nächt scho gseit.»

Ich nehme dem Virus nicht übel, dass er mir Fussballeuropameisterschaft und Olympia nimmt. Ich arrangiere mich erstaunlich schnell mit allem und jedem. Jessicas Laufpass oder die missratene Semesterprüfung. Vergessen und vergeben, wenn ein bisschen Gras über Sache und Fussballplatz gewachsen ist. Ich bin kein nachtragender Mensch. Nicht, dass ich jemandem bewusst eine zweite Chance zugestehe. Ich bin einfach zu faul für Rachefeldzüge. Und überdies viel zu harmoniebedürftig.

Aber dass das Virus den St. Galler Meistertitel verhindert, macht mich sauer.

Heute habe ich mich dabei ertappt, wie ich «FCSG YB 3 3» bei Google eintippe. Ich schaue mir Zusammenfassungen und Handyvideos an. Sehe ein Spiel, das hin und her wog. Das sich schliesslich aufbaute wie eine Welle. Nach der Flut kam die Ebbe. Leider nicht der Schalker Stürmer.

Ich stelle fest, dass ich seit drei Tagen im selben Trikot (Sunderland, Cattermole, Nummer sechs) herumlaufe. Und seit sieben Tagen Trainerhosen trage. Ich sollte sie und mich mal waschen. Es ist, als wolle ich die Zeit anhalten. Ich höre Bon Ivers «Blood Bank» in der Dauerschleife. Weil ich es hörte, als der FCSG die Grossen ärgerte und an die Spitze stürmte. Es ist mein Soundtrack der Schweizer Fussballrevolution. Es ist die Zeitkapsel vom Herbst 2019.

Es wird auch heute Nacht wieder schmerzen.

Tag 4: Donnerstag, 26. März

Liebes Tagebuch. Heute war ich auf Twitter. Dort, wo sich Wut- und Gutbürger treffen und beleidigen. Dort, wo ich zufrieden feststelle, dass es tatsächlich noch Menschen gibt, die unausgeglichener sind als ich.

Gegenwärtig zählen Nutzer vier Spieler auf, dank denen sie den Fussball lieben. Und nominieren drei Personen, um es ihnen gleichzutun. Die sogenannte Timeline ist nun voll von früheren Fussballern. Es ist wunderbar. Baggio, Beckham, Bergkamp. Wir kennen den verschossenen Elfmeter Baggios an der Weltmeisterschaft in den USA. Wir kennen Beckhams Freistoss gegen Griechenland in Manchester. Und wir kennen Bergkamps Pirouette gegen Newcastle. Diese Geschichten sind geschrieben.

— Mämä Sykora (@maemae_sykora) March 25, 2020

Wir haben nun Zeit, uns zu erinnern.

Frederic schreibt mir, er wünsche sich, es sei wieder 2007. Wir schwelgen ein bisschen. Paul Freier und Diego Klimowicz. Aachener Tivoli und Bielefelder Alm. Als am Mittwochnachmittag noch frei war. Und die Welt in Ordnung, wenn Simona bei MSN schrieb. Ich sehe mir die Verlängerung des DFB-Pokalfinals 2007 an. Weiss Gott, warum. Ich bin ein bisschen rührselig.

Wenn ich mit meinen Freunden am Open Air, diesen vier Tagen in einer temporären Zeltstadt, beschwipst von Bier und Musik, zusammensitze, sprechen wir fast ausschliesslich über unsere Zeit bei den Junioren. Über das Wochenende in Poschiavo, wo mitten auf dem Platz ein Schacht lag. Über das Geschoss aus vierzig Metern, das einmal ein Schlenzer von der Strafraumgrenze war. Über das herrlich herausgespielte Siegtor gegen Chur in der Nachspielzeit, das doch eigentlich in der 88. Minute mittels Abstauber fiel. Liebe macht bekanntlich blind.

Sport ist die stete Hoffnung auf etwas, das bleibt. Er endet nicht mit einem Pfiff, einer Sirene oder Zielflagge. Er lebt weiter. Auch jetzt ein bisschen. In Kopf und Herz.

Tag 3: Mittwoch, 25. März

Liebes Tagebuch. Mir fehlt der Sport, mir fehlt sein Rhythmus. Dienstag- und Mittwochabend Champions League. Donnerstags vielleicht Europa League. Je nach Beziehungsstatus. Samstags um halb vier Bundesligakonferenz. Am Sonntag ins Stadion und abends das Sportpanorama.

Jetzt ist es still. Kein Taktgeber, kein Solist. Kein Chor. Kein Toni Kroos und kein Lionel Messi. Keine lärmende Kurve. Seit über einer Woche läuft kein Sport, werden keine Geschichten geschrieben. Wir schreiben nun Geschichte, in dem wir zu Hause bleiben.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich vermisse die Stimmung im Stadion.

Bild: Urs Bucher

Draussen blühen unverblümt die Blumen. Ein bisschen Hohn. Zu Hause riecht es nach Bratpfanne und Meister Proper. Und nicht nach dem Schweiss der Umkleidekabine und abgestandenem Bier. Ich höre den Dampfabzug und die Waschmaschine. Und nicht das Quietschen der Turnschuhe auf dem Plastik der Sporthalle.

Mir fällt viel ein und auf. Und die Decke auf den Kopf.

Tag 2: Dienstag, 24. März

Liebes Tagebuch. Ich habe zu wenig Geld, um mir den «Football Manager 2020» zu kaufen. Und ich habe viel zu wenig Geld, um mir den FC Wil oder Neuchâtel Xamax zu kaufen. Also befreie ich meinen alten Computer von Staub und seltsamen Suchverläufen. Und lege «Fussball Manager 14» ein.

Zeit meiner beruflichen Karriere war ich Lehrling oder Praktikant. Nun bin ich die wichtigste Person bei der Borussia aus Mönchengladbach. Nach zwei Minuten verhandle ich mit Frank Lampard über einen haarsträubend lukrativen Vertrag und habe den Ausbau der Haupttribüne in Auftrag gegeben. Nach zwei Minuten bin ich dem Grössenwahn verfallen. Doch das Geld reicht nicht, um in der Defensive nachzurüsten. Im Abwehrzentrum sind der vollkommen talentfreie Roel Brouwers und der maximal grundsolide Tony Jantschke gesetzt. In der ersten Pokalrunde scheitere ich auswärts in Rostock.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Nach zwei Minuten verhandle ich mit Frank Lampard.

Bild: Keystone

Erneut kommt das Abendessen zur Unzeit. Das lasse ich meine Freundin auch wissen. Erzähle, dass ich jetzt da sein müsse für «mini Jungs». Dass ich euphorisch ausführe, wie ich mit der Mannschaft einen Freizeitpark besuchte (und dafür zwei Moralpunkte sammelte), mag zwar etwas befremdlich klingen. Aber ihre Gleichgültigkeit verletzt mich. Ich kehre zurück an den Computer.

Tag 1: Montag, 23. März

Liebes Tagebuch. Ich lade mein Handy öfters auf. Ich kämpfe im «Quizduell» gegen Simon, ernte Weizen bei «Hay Day» und sehe auf Instagram Fussballer, die mit Klopapier jonglieren. Heute habe ich in der App «Score! Hero» drei Franken investiert. Und wohl den vorläufigen Tiefpunkt erreicht.

Wer erschöpft ist rafft sich kaum auf basler zeitung

Ich bin dauernd am Handy.

Bild: Lisa Jenny

«Ligretto» mit meiner Freundin und ihrer kleinen Schwester. Ich spiele mit einem besorgniserregenden Ehrgeiz. Ich lege die Karten nicht in die Mitte, ich werfe sie. Ich verliere meistens.

Später lerne ich das Kartenspiel «Drecksau». Ich gewinne die ersten beiden Runden, ehe meine Freundin die Einnahme des Znachts durchsetzt. Ich bezichtige sie des unehrenhaften Kalküls. Es kann kein Zufall sein, dass wir genau jetzt essen. Im Laufe des Abends wiederhole ich diesen Verdacht. Anfangs lacht sie noch höflich, irgendwann ist sie genervt. Und ich erschrecke, weil mein Selbstvertrauen inzwischen abhängig ist von der Wahrnehmung eines Doppelsieges beim Kartenspiel.