Wer behauptet eine frau ist stärker als 20 jungen

Beim Orgasmus verdoppeln sich Atemfrequenz und Puls, die Organe werden stärker mit Sauerstoff versorgt, Muskeln im Unterleib beginnen rhythmisch zu zucken. Auf dem Gipfel der Ekstase sind Teile des Gehirns schwächer durchblutet, möglicherweise wandelt sich daher auch mancher Schmerz – etwa durch Beißen – in Lust

© mauritius images / Piotr Powietrzynski / A1705001 / Alamy

von Sebastian Kretz

14 Min.

Kaum etwas empfinden Menschen als so beglückend wie einen Orgasmus. Doch was genau löst in unserem Körper jenen berauschenden Höhepunkt aus? Warum erreichen ihn manche leicht, andere mitunter gar nicht? Und erleben Männer und Frauen jene Sekunden tiefster Befriedigung unterschiedlich?

Dies ist der Moment, da die Seele vorübergehend den Körper verlässt – das jedenfalls glaubte der griechische Theologe Clemens von Alexandria im 2. Jahrhundert n. Chr. Der Moment, da sich die Menschen in wollüstiger Gier versündigen, so wetterte einst der Kirchenvater Augustinus. Der Moment, in dem wir einen kleinen Tod sterben, so erzählen es sich die Franzosen. Kaum ein Vergleich ist zu drastisch, kaum ein Bild scheint überhöht, um ihn zu beschreiben: den Orgasmus.

Den Gipfel der Lust, den Frauen und Männer gleichermaßen als überwältigend empfinden, als berauschend und euphorisierend, als Verlust der Kontrolle und Befreiung von Druck, als erfüllendstes Wohlgefühl überhaupt. Es gibt wohl nur wenige erwachsene Menschen, denen das Erleben des sexuellen Höhepunkts gleichgültig ist. Zu leidenschaftlich erscheinen jene seligen Sekunden, zu begehrenswert ist die Befriedigung, die ein Orgasmus verschafft. Gut so: Wir alle existieren schließlich nur, weil unzählige Vorfahren dem Lockruf der Ekstase folgten.

Wer behauptet eine frau ist stärker als 20 jungen

GEO KOMPAKT Nr. 43 - 06/15 Sex

01.10.2020

Der Trieb, der uns zusammenführt und wie verborgene Kräfte unser Verlangen steuern

Nach wie vor steht der Orgasmus für etwas, wonach fast alle streben: höchste Lust und tiefste Entspannung. Er schenkt intensive Verbundenheit, entfacht Leidenschaft, treibt uns an. Allein die Aussicht auf einen Höhepunkt vermag uns derart zu erregen, dass Ängste und Sorgen, andere Ambitionen und Wünsche zur Nebensache werden.

Angesichts der Bedeutung, die wir dem Gipfel der Lust beimessen, könnte man meinen, das Phänomen sei längst umfassend ergründet. Tatsächlich aber weiß die Forschung noch immer erstaunlich wenig über das höchste der Gefühle. Sicher ist bislang nur: Der männliche Höhepunkt, in aller Regel begleitet von einem Samenerguss, ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns fortpflanzen. Aber darüber hinaus sind viele Fragen ungeklärt.

So konnten Forscher bis heute nicht einmal herausfinden, was genau die männliche Ejakulation auslöst oder wo genau im Gehirn der rauschhafte Zustand seinen Ursprung hat. Über Sinn und genauen Verlauf des weiblichen Orgasmus ist noch weniger bekannt. Evolutionsbiologen fragen sich, warum es ihn überhaupt gibt. Sexualwissenschaftler streiten darüber, wie viele unterschiedliche Arten von Orgasmen Frauen erleben können.

Und Psychologen sowie Neurowissenschaftler versuchen zu ergründen, weshalb es für viele Frauen so schwierig ist, einen Höhepunkt beim Geschlechtsverkehr zu erleben. Seit Ende der 1940er Jahre versuchen Forscher, die Geheimnisse des sexuellen Höhepunkts mit wissenschaftlichen Methoden zu ergründen. Sie fotografieren oder filmen Probanden beim Sex und lassen Männer im Labor in Reagenzgläser ejakulieren. Sie erkunden mit Druckmesssonden, Leuchtdioden sowie mechanischen Phalli die Vaginen der Probandinnen. Sie befestigen Endoskope aus Fiberglas an penetrierenden Penissen und durchleuchten Paare beim Beischlaf im Magnetresonanztomographen.

Zudem haben sie in den vergangenen Jahrzehnten Tausende Menschen dazu befragt, wie sie den Höhepunkt erleben – oder was sie davon abhält.

Schon Hippokrates dachte über Funktion des Orgasmus nach

Jahrhundertelang wäre es undenkbar gewesen, empirische Sexualforschung zu betreiben, geschweige denn, deren Ergebnisse zu veröffentlichen. Zwar dachten schon die Gelehrten in der Antike über die Funktion des Orgasmus nach – so hielt ihn der berühmte Arzt Hippokrates für nötig (und zwar bei beiden Geschlechtern), damit Menschen sich fortpflanzen.

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Sexualwissenschaft Das Forscherpaar, das Hunderte Menschen beim Orgasmus beobachtete

09.05.2022

Bis in die 1950er Jahre hatte kein Wissenschaftler ernsthaft erforscht, was beim Sex geschieht. Das änderte sich mit den Amerikanern William Masters und Virginia Johnson. Sie ließen Paare auf Behandlungsbetten kopulieren – und schufen mit ihren Erkenntnissen die Grundlage der modernen Sexualwissenschaft

Im Mittelalter lehrten christliche Theologen, den Sex zu genießen heiße, sich von Gott zu entfernen. Die Reformation mit ihrem Hang zur Askese verschärfte diese Lustfeindlichkeit. Und als das Bürgertum, das sich vom vermeintlich dekadenten Adel abgrenzen wollte, im 18. Jahrhundert an gesellschaftlichem Einfluss gewann, bestimmte es auch die Geschlechterrollen neu: Die Frau hatte fortan vor allem Mutter und Hausfrau, ihre Rolle beim Sex passiv zu sein. Ab 1850 schließlich wurde über den Höhepunkt der körperlichen Liebe kaum noch unbefangen gesprochen.

Freud postulierte, dass Frauen den Höhepunkt vaginal oder klitoral erreichen

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, trug in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts maßgeblich dazu bei, dieses Zeitalter der Prüderie zu beenden. Der Wiener Arzt ging davon aus, dass unterbewusste Triebe, vor allem das sexuelle Verlangen, großen Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Freud war einer der ersten Autoren, die sich ausgiebig mit dem Orgasmus beschäftigten. So postulierte er unter anderem, dass Frauen den Höhepunkt auf zweierlei Weise erreichen – vaginal oder klitoral.

1948 erschien die erste Studie, die die menschliche Sexualität systematisch untersuchte. Der Forscher Alfred Kinsey hatte Tausende Amerikaner zu ihren sexuellen Erfahrungen befragt und veröffentlichte Unerhörtes – etwa, dass mehr als ein Drittel der befragten Männer homosexuelle Erfahrungen gemacht hatten.

Ein gutes Jahrzehnt später erforschten der amerikanische Gynäkologe William Masters und seine Mitarbeiterin Virginia Johnson, wie Erregung und Orgasmus anatomisch entstehen. Sie filmten Probanden beim Sex und erfanden sogar einen durchsichtigen Penis, durch den sie beobachten konnten, wie bei Frauen Vagina und Gebärmutterhals auf die Penetration beim Geschlechtsverkehr reagieren.

Was damals Empörung auslöste, ist heute normal: Wie selbstverständlich arbeiten Wissenschaftler daran, den sexuellen Höhepunkt zu enträtseln. Und auch wenn es etliche Gemeinsamkeiten gibt, spielen sich im Körper von Männern und Frauen auf dem Gipfel der Lust zum Teil doch sehr ungleiche Vorgänge ab.

Sekunden vor dem Orgasmus sind Männer der "ejakulatorischen Unvermeidbarkeit" ausgeliefert

Bereits die körperlichen Voraussetzungen zum Erleben des Hochgefühls sind höchst unterschiedlich. Bei Männern beginnt die sexuelle Erregung mit erotischen Gedanken oder intimen Berührungen, die bestimmte Nerven im Rückenmark aktivieren. Die verbinden das Gehirn mit den Schwellkörpern im Penis.

Durch das Zusammenspiel von Kopf und Unterleib weiten sich in der Folge die Blutgefäße in den Schwellkörpern, die den Penis der Länge nach durchziehen. Dadurch fließt vermehrt Blut ins Glied und drückt gegen unnachgiebiges Bindegewebe, das die Schwellkörper umgibt. Weil die Venen dabei zusammengepresst werden, kann das Blut nicht abfließen. Der Penis wird hart und richtet sich auf.

Die Phase zwischen dem Beginn der Erregung und dem Höhepunkt, in der die Lust immer weiter steigt, empfinden viele wie eine Flutwelle, die an- und abschwillt, sich dabei aber immer höher auftürmt, ehe sie schließlich im Orgasmus bricht. Einige Sekunden, bevor es dazu kommt, sind Männer der "ejakulatorischen Unvermeidbarkeit" ausgeliefert: Die Spermien werden bereits aus den Hoden durch den röhrenförmigen Samenleiter bis zur Prostata gepumpt. Dort mischen sie sich mit Samenflüssigkeit und gelangen in die Harnröhre.

Zwar halten Ringmuskeln das Sperma nun noch davon ab, herauszuschießen. Doch keine Ablenkung, und sei sie noch so unerotisch, kann verhindern, dass kurz darauf die Muskeln in Penis, Hoden, Beckenboden und Prostata beginnen, im Rhythmus von 0,8 Sekunden zu zucken. Im gleichen Takt weitet und verengt sich die Harnröhre; das angestaute Sperma schießt mit einer Geschwindigkeit von 17 km/h schubweise aus dem Penis. Dabei sind die ersten drei oder vier Kontraktionen die kräftigsten. Im Schnitt hält der Höhepunkt gute zwölf Sekunden lang an.

Was genau im männlichen Körper bewirkt, dass bei fortwährender Stimulation die Erregung im Orgasmus gipfelt, ist nicht bekannt. Studien deuten darauf hin, dass der Fluss des Spermas durch die Harnröhre zwar das Wohlgefühl während der Ejakulation verstärkt. Ausgelöst wird der Höhepunkt aber im Gehirn.

Wer behauptet eine frau ist stärker als 20 jungen

Die Kurve der Lust: Beim Sex durchläuft ein Mensch verschiedene Stadien der Lust: In einer anfänglichen Erregungsphase (1) nimmt das Verlangen kontinuierlich zu, gefolgt von einer Plateauphase (2) gleichbleibend hoher Lust, die lange andauern kann, bis schließlich in der Orgasmusphase (3) die Erregung im Höhepunkt gipfelt. Unweigerlich folgt die Refraktärphase (4): Die Lust schwindet allmählich und klingt schließlich ganz ab

© Tim Wehrmann

Auch bei Frauen werden – auf einen erregenden Schlüsselreiz hin – die Geschlechtsteile stärker durchblutet; die äußeren Schamlippen und die Scheidenwände schwellen an, Vaginalsekret tritt aus, die Scheide wird feucht.

Die Klitoris, die wie der Penis Schwellkörper sowie eine außen liegende, besonders empfindliche Spitze hat, erigiert. Ihre Schwellkörper ragen rund neun Zentimeter in den Körper hinein, ihre Spitze enthält etwa so viele Nervenenden und Sinneskörperchen wie die Eichel des männlichen Glieds, verteilt allerdings auf viel weniger Raum (mit der dadurch 50-fach höheren Dichte ist die Klitoris das empfindlichste Gewebe des menschlichen Körpers).

Einen „Point of no Return“ wie beim Mann gibt es bei der Frau nicht. Sie muss anhaltend stimuliert werden, sei es durch vaginale Penetration, durch Stimulation der Klitoris oder durch sexuelle Fantasien. Dann ziehen sich schließlich Vagina, Gebärmutter und die umliegenden Muskeln rhythmisch zusammen, und zwar ebenfalls im Abstand von 0,8 Sekunden.

Anders als Männer, deren Orgasmus selten länger als einige Sekunden anhält, berichten manche Frauen von Höhepunkten, die weit über eine Minute andauern. Doch wie genau Körper und Gehirn zusammenspielen, damit die Schwelle zum Orgasmus überschritten wird, ist auch bei der Frau nicht genau bekannt.

Ebenso wenig präzise lässt sich festmachen, wie der Einzelne die höchste Lust empfindet, denn Gefühle entziehen sich weitgehend den Messapparaten der Forscher. Doch immerhin konnten sie klären, dass es womöglich weder ein spezifisch männliches noch ein spezifisch weibliches Empfinden gibt.

1976 ließen zwei US-Wissenschaftler Studenten ihre Gefühle beim Orgasmus schriftlich wiedergeben. Die Befragten berichteten von „plötzlicher Benommenheit, gefolgt von Hochstimmung und tiefer Erleichterung“, „höchster Anspannung und zugleich Befreiung“, dem „Verlust der Muskelkontrolle, während die Lust wächst“ oder dem „Verlust irgendeines Gefühls für die Umgebung außer für die andere Person“.

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Sexualität Die Lust der späten Jahre: Wie das Liebesleben im Alter erfüllend bleibt

30.08.2022

Wenn Menschen in die Jahre kommen, verändert sich mit dem Körper auch die Sexualität. Doch was genau geschieht dann mit dem Begehren? Was bedeutet das für die Partnerschaft? Und wie lässt sich bis ins hohe Alter eine erfüllende Sexualität erleben?

Anschließend legten die Forscher diese Texte Ärzten, Psychologen und Medizinstudenten vor und fragten sie, ob die Beschreibungen von Männern oder Frauen stammten. Das Ergebnis: Über Zufallstreffer hinaus konnten die Testleser die Beschreibungen dem jeweiligen Geschlecht nicht korrekt zuordnen. Offenbar ist der Orgasmus für Frauen und Männer auf gleiche Weise überwältigend.

Beiden Geschlechtern gemein ist auch, dass während des Höhepunkts Atemfrequenz und Puls auf das Doppelte des Ruhezustands steigen, die Gefäße werden stärker von Blut durchflossen, Muskeln und Organe mit mehr Sauerstoff versorgt. Während die Schmerzempfindlichkeit auf die Hälfte sinkt, nehmen wir sanfte Berührungen weiterhin voll wahr.

Obwohl wir während der wonnevollen Sekunden das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren, verdanken wir sie nicht etwa einem Reflex, sondern es bedarf häufig minutenlang anhaltender Stimulation, um den Orgasmus auszulösen. Vor allem aber nützt kein Streicheln und keine Penetration, wenn nicht Begierde den Körper befeuert: Und die entsteht nun mal im Gehirn.

Steuerzentrum regt die Ausschüttung von Adrenalin und Oxytocin an

Wie genau es aus einem Feuerwerk von Nervensignalen das größte Wohlgefühl komponiert, zu dem Menschen fähig sind (und in welcher Wechselwirkung es dabei mit den Genitalien steht), ist aber noch kaum entschlüsselt.

Das liegt auch daran, dass es schwierig ist, mit Verfahren wie der Magnetresonanztomographie das Gehirn während des Orgasmus zu untersuchen – besonders, wenn er bei einer Frau durch vaginale Penetration ausgelöst werden soll. In einer engen, dröhnenden Röhre mit einander zu schlafen, das empfinden die wenigsten Probanden als anregend. Und selbst wenn es ihnen gelingt, zum Höhepunkt zu kommen: Er hält nur kurz an, und jede Bewegung verringert die Genauigkeit.

Fest steht, dass Forscher im Gehirn kein bestimmtes Orgasmuszentrum lokalisieren können. Um das Gefühl höchster Lust zu erzeugen, arbeiten mehrere Bereiche des Denkorgans zusammen.

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Küssen ist viel mehr als ein Zeichen der Verbundenheit. Menschen tauschen dabei geheime Botschaften aus - etwa ob der Partner eher rabiat ist oder sinnlich, gesund oder kränklich, zurückhaltend oder begierig

Damit überhaupt anhaltendes sexuelles Verlangen entsteht, muss ein Schlüsselreiz – ein verheißungsvoller Blick, eine Berührung – die Großhirnrinde erreichen, in der Sinneseindrücke verarbeitet werden.

Ist der Reiz stark genug, wird er in das urtümlichere Zwischenhirn weitergeleitet und landet schließlich im kirschengroßen Hypothalamus, der unwillkürliche Körperfunktionen wie den Herzschlag lenkt. Dieses Steuerzentrum regt die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin und Oxytocin an und steigert so unsere körperliche Empfindsamkeit.

Bei Frauen wie Männern ist zudem das sogenannte Belohnungssystem aktiv und überschwemmt das Gehirn mit dem Botenstoff Dopamin. Dieses Hormon erhöht das Verlangen nach mehr – also danach, unbedingt den Orgasmus zu erreichen. Weitere lustfördernde Stoffe werden im Körper ausgeschüttet, was dazu führt, dass schließlich die Geschlechtsteile bei anhaltender Stimulation zu zucken beginnen und wir die Schwelle zum Höhepunkt überschreiten. Auf dem Gipfel der Lust steigt zudem der Spiegel des Hormons Oxytocin weiter an, das den Wunsch nach körperlicher Nähe auslöst.

Andere Bereiche des Gehirns, so legen Experimente nahe, stellen ihren Dienst dagegen weitgehend ein. Insbesondere der stirnnahe Bereich der Großhirnrinde, der präfrontale Kortex – der unter anderem moralisches Empfinden, Ich-Bewusstsein und Selbstkontrolle steuert – wird während des Höhepunkts schwächer durchblutet.

Vermutlich sind auch die Schwellen für alle anderen Sinnessysteme erhöht, weshalb beispielsweise ein Schlagen oder Beißen statt in Schmerz in Lustreize umschlägt. Ein schärferes Bild davon, wieso die verschiedenen Bereiche des Gehirns in genau dieser Konstellation jene Lust erzeugen, die wohl fast jedes andere Wohlgefühl übertrifft, kann die Wissenschaft aber noch nicht zeichnen.

Aspirations-Hypothese und Nebenprodukt-Hypothese

Nach dem Höhepunkt sinken Puls und Atmung rasch auf Normalwerte. Beim Mann öffnen sich die Venen im Penis, das Blut fließt ab, und das Glied erschlafft. Es beginnt die „Refraktärphase“, in der es unmöglich ist, erneut eine Erektion zu bekommen. Bei jungen Männern dauert sie manchmal nur einige Minuten, bei Älteren können es Stunden sein.

Der Spiegel des Hormons Prolaktin (der Tiere beispielsweise dazu anregt, ihren Nachwuchs zu umsorgen) steigt aufs Doppelte. Dieser Schub, zusammen mit dem bereits ausgeschütteten Oxytocin, löst wohl auch die bleierne Müdigkeit aus, die viele Männer nach dem Sex befällt.

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Auch bei Frauen fließt nach dem Höhe punkt das gestaute Blut aus Klitoris, Schamlippen und Scheide ab. Und auch bei ihnen schnellen Prolaktin- und Oxytocinspiegel in die Höhe. Ungeklärt ist, warum es Frauen in der Regel leichter fällt, munter zu bleiben. Eine Erholungspause, die sexuelle Erregung oder gar einen weiteren Orgasmus anatomisch unmöglich macht, brauchen sie nicht abzuwarten.

Möglicherweise dient die Refraktärphase bei Männern dazu, den Vorrat an Spermien wieder aufzufüllen.

Ohnehin ist über den männlichen Höhepunkt mehr bekannt als über den weiblichen. Das liegt zum einen daran, dass sich die (früher vor allem männlichen) Wissenschaftler mit dem eigenen Geschlecht gründlicher beschäftigten. Zum anderen ist ein Vorgang, der für die Fortpflanzung nötig ist, für Forscher offenbar interessanter als ein scheinbar nutzloser – denn damit ein Spermium eine Eizelle befruchtet, muss die Frau keinen orgastischen Rausch erleben. Und weil der weibliche Höhepunkt nicht mit einer eindeutigen körperlichen Reaktion wie dem Samenerguss verbunden ist, sind sich die Wissenschaftler nicht einmal einig, wie er zu definieren, geschweige denn zu messen sei.

An der Funktion des männlichen Höhepunkts gibt es aus Sicht der Evolutionsbiologie ja keine Zweifel. Weil Männer keine Kinder austragen und stillen müssen, geben sie ihre Gene am erfolgreichsten weiter, wenn sie sich möglichst oft mit möglichst vielen verschiedenen Frauen paaren. Das Hochgefühl bei der Ejakulation schafft den Anreiz dazu.

Frauen dagegen können empfangen, ohne zum Orgasmus gekommen zu sein. Und so fragen sich Forscher: Warum ist er überhaupt entstanden? Bis heute spekulieren die Biologen dar über. Die beiden wichtigsten Hypothesen dazu sind:

  • die Aspirations-Hypothese und
  • die Nebenprodukt-Hypothese.

Die Vertreter der Aspirations-Hypothese gehen davon aus, dass der weibliche Höhepunkt die Befruchtung erleichtert: Die beim Orgasmus zuckenden Muskeln im Unterleib transportierten das Sperma zügiger in die Gebärmutter und erhöhten so die Chance auf eine Empfängnis. Eine Studie schien dies zu untermauern. Mit einer am Penis eines Probanden befestigten Kamera meinten Forscher zu beobachten, dass der Gebärmutterhals während des Höhepunkts rhythmisch zuckend ins Sperma eintauchte.

„G-Punkt“ nach dem Frauenarzt Ernst Gräfenberg benannt

Gegen die These spricht jedoch, dass sich bei sexueller Erregung der Gebärmutterhals zurückzieht und sich so von herannahenden Samenzellen entfernt. Ohnehin sind die Samenzellen unmittelbar nach der Ejakulation noch unfähig zur Befruchtung. Sie werden erst durch Stoffe aktiviert, die sich in der Samenflüssigkeit und der Vagina befinden. Die Spermien möglichst schnell in die Gebärmutter zu transportieren würde die Wahrscheinlichkeit einer Befruchtung also eindeutig verringern.

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Die Vertreter der Nebenprodukt-These vermuten, die Fähigkeit zum Orgasmus sei derart wichtig für den männlichen Fortpflanzungserfolg, dass sie sich sehr tief im menschlichen Erbgut verankert habe. Frauen hätten demnach den sexuellen Höhepunkt als eine Art Nebenprodukt ohne evolutionären Nutzen geerbt (aus dem gleichen Grund haben Männer Brustwarzen). Das würde auch erklären, wieso die weiblichen Unterleibsmuskeln im gleichen Rhythmus zucken wie die männlichen.

Diese These sei derzeit die gängigste, so die Psychologin Verena Klein, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Beweisen lasse sich allerdings keine der beiden Annahmen.

Die Sexualforscher streiten auch darüber, ob es mehrere Arten weiblicher Orgasmen gibt. Allgemein anerkannt ist, dass die meisten Frauen am häufigsten und einfachsten durch Stimulation der Klitoris zum Höhepunkt kommen. Da Sigmund Freud diese sexuelle Spielart einst aber als Zeichen mangelnder Reife abgewertet und behauptet hat, erwachsene Frauen kämen allein durch das rhythmische Eindringen des Penis zur höchsten Lust, hieß es jahrzehntelang: Wenn eine Frau keine vaginalen Orgasmen erlebte, lag das nicht etwa an anatomischen Details oder wenig einfühlsamen Liebhabern, sondern die Frau galt als frigide, unreif – sie war also selber schuld.

Erst Studien in den 1950er und 1960er Jahren zeigten, dass das Innere der Vagina vergleichsweise unempfindlich ist und mehr als zwei Drittel der Frauen durch dortige Penetration allein nicht den Höhepunkt erreichen, sondern durch Stimulation der Klitoris. Seither gilt Freuds Interpretation als Irrtum.

Die Diskussion, ob es verschiedene Arten weiblicher Orgasmen gibt (und wenn ja, wie viele), hält aber an. 1981 berichteten US-Forscher von einem Bereich an der oberen Scheidenwand, der bei vielen Frauen so empfindlich sei, dass allein seine Berührung einen Höhepunkt auslöse. Sie nannten ihn „G-Punkt“ – nach dem Kieler Frauenarzt Ernst Gräfenberg, der eine solche Stelle erstmals vermutet hatte.

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Das Verlangen nach Nähe und Sex erscheint mitunter wie eine Urgewalt, der wir ausgeliefert sind, unfähig, sie zu durchschauen. Und doch beruht unsere Leidenschaft auf biochemischen Prozessen und Mechanismen des Gehirns, die Forschende mehr und mehr entschlüsseln

Eine Studie aus der Fachzeitschrift „Sexual and Relationship Therapy“ listete 2012 neun verschiedene erogene Zonen im weiblichen Genitalbereich auf.

Unter anderem erwähnten die Autoren die Funktion einer empfindlichen Schleimhaut, die die Harnröhrenöffnung umgibt. Sie werde durch den Penis rhythmisch in die Scheide hinein- und wieder hinausbewegt und so derart stimuliert, dass sie einen vaginalen Orgasmus auslösen könne. Doch alle diese Vermutungen sind umstritten; vom G-Punkt ist nicht einmal erwiesen, ob er als eindeutig abgrenzbares Organ existiert.

William Masters und Virginia Johnson, die Pioniere der Sexualforschung, hatten schon in den 1960er Jahren beobachtet, dass das Gefühl der Ekstase immer das gleiche ist, gleichgültig, wo der Höhepunkt ausgelöst wurde. Inzwischen gehen viele Forscher von einem „klitoralen Komplex“ aus. Demnach spielen stets verschiedene erogene Zonen zusammen, um das lustvolle Hochgefühl zu erzeugen.

Auch bei ihren Problemen mit dem Höhepunkt unterscheiden sich die beiden Geschlechter: Männer haben selten Schwierigkeiten, einen Orgasmus zu erleben. Knapp ein Prozent – junge häufiger als ältere – leiden allerdings darunter, zu früh zu ejakulieren.

Evolutionsbiologen erklären sich das mit den Lebensumständen der Frühmenschen: In einer Welt voller Gefahren war es ein Überlebensvorteil, schnell zum Samenerguss zu kommen. Für junge Männer galt dies umso mehr, da sie womöglich fürchten mussten, von Ranghöheren entdeckt und verjagt zu werden.

Höhepunkt ist für Männer und für Frauen gesund

Vielen Frauen fällt es dagegen schwer, beim Geschlechtsverkehr überhaupt einen Höhepunkt zu erleben. Eine umfangreiche Studie ergab, dass ein Viertel bis gut ein Drittel der Befragten beim Sex trotz großer Erregung nicht, spät oder nur zu einem enttäuschend schwachen Orgasmus kommen; maximal die Hälfte von ihnen verspüren regelmäßig beim Liebesakt die höchste Lust.

Neben mangelnder Stimulation – die empfindliche Klitoris liegt bestenfalls am Rand des Bereichs, der bei bloßer Penetration durch den Penis gereizt wird – sind es häufig psychische Gründe, die den Weg zum Höhepunkt blockieren. So sind Menschen zum Beispiel in der Lage, sich gewissermaßen selbst zu beobachten. Ein eingebildeter „innerer Zuschauer“ kommentiert das eigene Verhalten, und zwar nicht etwa anfeuernd, sondern oft hämisch oder abfällig.

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Bei Männern kann das Erektionsprobleme bewirken, gegen die es inzwischen wirksame Mittel gibt. Bei Frauen führt es dazu, dass sie sich nicht ausreichend entspannen können, um einen Orgasmus zu erleben. Dagegen können unter anderem Übungen gegen Stress, allein oder mit dem Partner, oder auch eine Sexualtherapie helfen. Eine Lustpille für die Frau gibt es bisher aber nicht, so intensiv die Forschungsabteilungen der Pharmaindustrie auch daran arbeiten.

Wenigstens über eine Nebenfunktion des Höhepunkts besteht Klarheit: Er ist gesund, und zwar für Männer wie für Frauen, beim gemeinsamen Liebesspiel oder bei der Selbstbefriedigung.

Männer, die im Mittel zweimal pro Woche ejakulieren, genießen eine höhere Lebenserwartung als weitgehend Abstinente. Womöglich wirken Stoffe, die beim Orgasmus ausgeschieden werden, positiv auf das Herz- und Kreislaufsystem. Auch ist das Immunsystem von sexuell Aktiven stärker.

Frauen können mit der Selbstbefriedigung Menstruationskrämpfe lindern und bei Schwangerschaften gar das Risiko einer Frühgeburt senken. Eine US-Studie hat ergeben, dass Frauen sieben bis acht Jahre länger leben, wenn sie ihre Orgasmen genießen.

Und: Bei jedem Akt verbrennen zwei Liebende so viele Kalorien wie während eines 20-minütigen Spaziergangs. Wenn das kein Grund ist ...