Wenn Zeitungen nicht vom Staat bestimmt werden

Alle dürfen eine Meinung haben. Aber die Meinungsäusserungsfreiheit gilt nicht uneingeschränkt: Wer öffentlich den Holocaust leugnet und den demokratischen Staat zerstören will, macht sich strafbar. Wildpixel / iStock

Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Schutzmassnahmen sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr. Wie aber ist Meinungsfreiheit definiert? Expertinnen und ein Experte geben Antworten.

Dieser Inhalt wurde am 03. Mai 2021 - 08:45 publiziert

"Die Meinungsfreiheit schützt ein Grundbedürfnis der Menschen", sagt Maya Hertig, Professorin für Schweizer und europäisches Verfassungsrecht an der Universität Genf. Die Idee der Meinungsfreiheit basiert auf der aufklärerischen Vorstellung, dass wir alle denkende, vernünftige Wesen sind, die ihre Meinung im Dialog bilden.

"Für die Demokratie ist die Meinungsfreiheit und auch die Informationsfreiheit wesentlich", sagt Hertig. Das Gleiche gelte für die Forschung: "Fortschritt ist nur möglich, wenn die vorherrschende Meinung in Frage gestellt werden kann."

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Im Prinzip sollte alles glasklar sein. Sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als auch im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) heisst es in Artikel 19: "Jede und jeder hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut jeder Art zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten, sei es mündlich, schriftlich oder in gedruckter Form, durch Kunst oder durch ein anderes Medium seiner Wahl."

In Europa bestätigt die Europäische Menschenrechts-Konvention (1950) die Meinungsfreiheit als rechtsverbindliches Recht (Artikel 10). Die Schweiz verankert diese Grundfreiheit in Artikel 16 ihrer Verfassung von 1999.

In der Praxis bleibt jedoch vieles umstritten. Regierungen auf der ganzen Welt schützen das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht, sondern unterminieren es zunehmend. In anderen Teilen der Welt nutzen Einzelne und Gruppen den Begriff "Meinungsfreiheit", um diskriminierende und hasserfüllte Äusserungen zu rechtfertigen. Doch obwohl sie ein universelles Recht ist, ist die Meinungsfreiheit kein absolutes Recht. Sie zu gewährleisten und anzuwenden, ist immer eine Gratwanderung.

In einer neuen Serie befasst sich SWI swissinfo.ch mit diesen verschiedenen Aspekten, Herausforderungen, Meinungen und Entwicklungen rund um die Meinungsfreiheit – sowohl in der Schweiz als auch weltweit.

Wir bieten eine Plattform für Bürgerinnen und Bürger, sich zum Thema zu äussern, bieten Analysen von renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und beleuchten Entwicklungen auf lokaler und globaler Ebene. Und natürlich sind die Leserinnen und Leser eingeladen, sich noch in diesem Frühjahr an der Diskussion zu beteiligen und ihre Stimme zu erheben.

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Deshalb ist die Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Sie ist unter anderem in Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention und in Artikel 19 des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert.

In der Schweiz wurde das Recht auf freie Meinungsäusserung erst in der Verfassung von 1999 festgeschrieben – aber bereits seit 1959 als ungeschriebenes Grundrecht anerkanntExterner Link.

Die Autorin

Katrin Schregenberger ist leitende Redaktorin von higgs.chExterner Link, dem ersten unabhängigen Online-Magazin für Wissen in der Schweiz. Davor hatte sie u. a. sechs Jahre für die Neue Zürcher Zeitung geschrieben und war als Reporterin unterwegs, so auch in Myanmar.

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Laut der Verfassungsrechtlerin Hertig schützt die Meinungsfreiheit sowohl Äusserungen von überprüfbaren Tatsachen als auch von subjektiven Meinungen und Emotionen – zum Beispiel in der Kunst – und symbolische Handlungen – zum Beispiel in Form eines Sitzstreiks. "Geschützt ist der ganze Kommunikationsprozess, vom Verbreiten bis zum Empfangen", sagt sie. Das heisst: Grundsätzlich darf niemand vom Staat daran gehindert werden, seine Meinung zu äussern.

Keine absolute Freiheit

"Das Recht, eine Meinung zu haben, ist nicht einschränkbar", erklärt sie. So ist es also nicht strafbar, eine rassistische Einstellung zu haben. Rassistische Äusserungen zu verbreiten, hingegen schon.

  • "Ohne Titel": Sara Qaed ist eine Cartoonistin aus Bahrain, die in Grossbritannien lebt. In ihren täglichen Karikaturen geht es um Flüchtlinge, Frauen, Korruption, Macht, menschliche Existenz und Widersprüche. Sara Qaed
  • "Es ist nicht einfach, die Meinungsfreiheit einzurahmen": André-Philippe Côté ist ein kanadischer Szenerist und Cartoonist. Er wurde vor allem durch seine Comics bekannt. Côte zeichnet für Tageszeitungen und Satire-Magazine. Jährlich erscheint eine Sammlung seiner besten Karikaturen und seine Kunst wird in grossen Ausstellungen gezeigt. Côté
  • Die indische Cartoonistin Rachita Taneja ist die Gründerin von Sanitary Panels, einem feministischen Webcomic auf Instagram, der Politik, Gesellschaft und Kultur kommentiert. Gegen Taneja wurde im Dezember 2020 ein Strafverfahren eingeleitet. Sie habe mit einer Karikatur angedeutet, dass der Oberste Gerichtshof Indiens gegenüber der regierenden Bharatiya Janata Party befangen sei. sanitraypanels
  • Wang Liming, der unter dem Pseudonym Rebel Pepper arbeitet, ist ein chinesischer Karikaturist, der für seine antikommunistischen satirischen Cartoons berühmt ist. Der Uigure wurde wiederholt von der Regierung verfolgt, weil er Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas verspottet hatte. Seit 2014 kann er nicht mehr nach China einreisen, weil es für ihn zu gefährlich ist. Rebel Pepper
  • "Ein blutbefleckter Tag der bewaffneten Streitkräfte in Myanmar", ebenfalls von Wang Liming. Im Juni 2017 begann er als hauptberuflicher politischer Karikaturist bei RFA Radio Free Asia in den USA zu arbeiten. Rebel Pepper
  • "Vom Tiananmen nach Hongkong": Patrick Chappatte, der schweizerisch-libanesische Wurzeln hat, zeichnet für renommierte internationale Medien wie Herald Tribune, Der Spiegel und New York Times. Diese beschloss 2019, keine Pressekarikaturen mehr zu zeigen. Seit 2010 ist der Weltbürger Chappatte Präsident der Stiftung "Cartooning for Peace". Friedensnobelpreisträger Kofi Annan war Inspirator und Ehrenpräsident der Schweizer Stiftung. Chappatte
  • Angel Boligán Corbo stammt ursprünglich aus Kuba und schloss 1987 sein Studium der Bildenden Künste in Havanna ab. Seit 1992 lebt er in Mexiko, wo er als Karikaturist für die Zeitung El Universal, die Zeitschrift Conozca Más und das politische Magazin El Chamuco arbeitet. Ausserdem ist er Gründer der Agentur CartonClub, die politische Cartoons vertreibt. Boligan
  • Der japanische Cartoonist Norio Yamanoi verbrachte zehn Jahre in Frankreich, wo er als Regisseur Kurzfilme realisierte. Nach seiner Rückkehr nach Japan veröffentlicht er wöchentlich einen Cartoon in AERA, einem japanischen Wochenmagazin. Jedes Jahr reist er für zwei Monate um die Welt, um mit seinen Cartoons für Toleranz und Frieden zu werben. No_Rio
  • "Zensur - Die Auferstehung": Seit über 40 Jahren arbeitet Arnaldo Angeli Filho ausschliesslich als politischer Karikaturist für die Zeitung Folha de S.Paulo und für Universo OnLine (UOL) in Brasilien. Er realisierte auch animierte Comics für das Internet und für Cartoon Network. Sechzehn Mal wurde er als bester Cartoonist Brasiliens ausgezeichnet. Angeli
  • Hani Abbas ist ein syrisch-palästinensischer Karikaturist, der 1977 im palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Syrien geboren wurde. Nach der Veröffentlichung einer Karikatur auf Facebook im Jahr 2012 musste er aus Syrien fliehen und in der Schweiz um Asyl nachsuchen. Inzwischen hat er sich in der Schweiz niedergelassen und prangert immer wieder in Karikaturen die Gräueltaten des Krieges an. Hani Abbas
  • "Keine politischen Karikaturen mehr in der New York Times": Marco De Angelis ist ein italienischer Journalist, redaktioneller Karikaturist, Illustrator vieler Kinderbücher und Grafikdesigner. Er wurde 1955 in Rom geboren und veröffentlichte ab 1975 in 200 Zeitungen in Italien und im Ausland. Jahrelang war er Journalist und Karikaturist für die Tageszeitungen La Repubblica, Il Popolo und Il Messaggero. Er ist Chefredakteur des Online-Magazins Buduàr. CartoonArts International und The New York Times Syndicate (vor 2019) vertreiben seine Werke weltweit. M. De Angelis
  • "Bewerten Sie zuerst meine Arbeit vom 1 bis 5." Der Autodidakt und Karikaturist Aleksey Merinov arbeitet seit 1988 bei der Zeitung Moskovskij Komsomolets in Moskau. Er illustriert politisch zweideutige Bücher wie das Strafgesetzbuch, das Steuergesetzbuch oder eine Sammlung von Zitaten von Wladimir Putin. Aleksey Merinov
  • "Er zeichnete zuerst": David Pope begann Mitte der 1980er-Jahre mit Cartoons für verschiedene australische Publikationen, die sich mit der Arbeiterbewegung und der Umweltbewegung befassten. Als freier Karikaturist zeichnete er unter dem Pseudonym Heinrich Heinz. Seit er 2008 fest bei der Canberra Times angestellt wurde, veröffentlicht Pope unter seinem eigenen Namen. Pope
  • "Ich darf nicht, ich darf nicht zeichnen, ich darf nicht Mohammed zeichnen..." Jean Plantureux oder Plantu, wie er seine Werke zeichnet, veröffentliche seine erste Karikatur zum Vietnamkrieg 1972 in der Zeitung Le Monde. Seither ist er in viele Medien in den Schlagzeilen. Im Jahr 2006 organisierte er mit Kofi Annan, dem Ex-Generalsekretär der Vereinten Nationen, ein Symposium in New York, bei dem Cartooning for Peace gegründet wurde. Plantu

    Denn: Auch der Meinungsfreiheit sind gesetzliche Schranken gesetzt. "Die Freiheit, eine Meinung zu äussern, ist nicht absolut", sagt Hertig. Ein absolutes Recht ist eines, das niemals eingeschränkt werden kann – auch nicht in aussergewöhnlichen Lagen wie Krieg, Krise oder Pandemie. "Es gibt nur ganz wenige absolute Rechte, die uneingeschränkt gelten, zum Beispiel das Folterverbot." Foltern ist nie erlaubt, weder im Krieg noch im Frieden, und auch nicht, wenn die Informationen, die man durch die Folter zu erlangen erhofft, viele Leben schützen könnten.

    Die Meinungsfreiheit aber endet dort, wo andere Schutzgüter wie zum Beispiel die Menschenwürde verletzt werden. Dies gilt bei der Leugnung von Verbrechen gegen die MenschlichkeitExterner Link, wie dem Holocaust. Doch auch zum Beispiel Verbreitung von Hass gegen einzelne Personen oder Personengruppen ist strafbar.

    Youtube & Co. dürfen Regeln setzen

    Während der Corona-Pandemie haben sich Fälle gehäuft, in denen grosse Internetportale wie Youtube Beiträge wegen Falschaussagen löschten. Ist das eine Einschränkung der Meinungsfreiheit? Theoretisch schon, so Hertig. Aber: "Die Meinungsfreiheit schützt nur vor Eingriffen durch den Staat, sie bindet nicht direkt private Akteure wie Youtube." Klagen kann man gestützt auf die Meinungsfreiheit also nur gegen den Staat, nicht gegen Private.

    Auch das Zensurverbot richtet sich in erster Linie gegen den Staat. Bei Youtube und anderen Kanälen handelt es sich um private Anbieter, die nicht direkt an das verfassungsrechtliche Zensurverbot gebunden sind. Ihnen ist also freigestellt, was sie auf ihrer Plattform dulden wollen – und was nicht.

    Nur: "Der Staat muss geeignete Massnahmen treffen, um die Meinungsfreiheit gegen Einschränkungen durch Private zu schützen", sagt Hertig. Das gilt auch im Internet und dort haben gewisse Plattformen mittlerweile eine Monopolstellung: "Youtube und andere soziale Medien sind heute wesentlich, damit sich Bürgerinnen und Bürger in eine Debatte einbringen können."

    Der Schutz der Meinungsfreiheit im Netz ist allerdings schwierig zu gewähren, weil die Firmen ihren Sitz häufig im Ausland haben und einseitige staatliche Regulierungen zu einer rechtlichen Fragmentierung führen. Darum seien international einheitlichere Regeln und mehr Transparenz dringend, sagt Hertig. "Es muss klar sein, was warum wegkommt". Das kann auch durch überstaatliche Initiativen geschehen. So haben grosse IT-Konzerne, darunter Facebook und Youtube, mit der EU eine VereinbarungExterner Link getroffen, Meldungen von Hassrede innerhalb von 24 Stunden zu prüfen. Ausserdem gibt es einen KodexExterner Link im Umgang mit Desinformation. Hier handelt es sich aber lediglich um BekenntnisseExterner Link der Unternehmen, also um Selbstregulierung.

    Löschen von Falschnachrichten bringt wenig

    Von Gesetzen, die das Löschen von Falschnachrichten vorschreiben, hält die Verfassungsrechtlerin Hertig aber nichts. Rechtlich gesehen ist es nicht grundsätzlich verboten, falsche Fakten zu verbreiten. Auch sei es teilweise schwierig zu definieren, was die "Wahrheit" sei. Und in manchen asiatischen Ländern werde zum Beispiel unter dem Vorwand von Fake News staatliche Zensur betrieben. "Es gehört ein Stück weit zu einer Demokratie, dass auch unliebsame Inhalte sichtbar sind", sagt sie.

    "Je diverser das Meinungsbild, desto besser geht es der Demokratie", sagt Florian Steger, Medizinethiker und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Zuhören sei ein notwendiger Akt des demokratischen Prozesses. Eine echte Lösung des Problems Falschinformation sei Löschen ohnehin nicht, denn "die Meinung bleibt in den Köpfen".

    Viel besser wären laut Steger Bürgerdialoge und transparente Kommunikation. "Gerade in einer Pandemie wie dieser ist die Evidenzbasis oft unzureichend und die Regierungen müssen aus Vorsicht agieren." Diese Wissenslücken seien zu benennen – auch wenn Unwissen für viele Menschen schwierig zu ertragen sei.

    Wenn Beiträge gelöscht würden, sagt Steger, werde es ganz generell gefährlich. "Man darf nur löschen, was den Staat im Innersten erodiert. Und für solche Löschungen sind Polizei und Gerichte zuständig." Konkret: Wenn die Kernzellen der Demokratie mit Gewalt bedroht würden, wie im Fall des Sturms auf das US-Kapitol, dann sei die Grenze des Sagbaren erreicht.

    Wer Meinungsfreiheit beansprucht, muss auch Kritik in Kauf nehmen

    Einige Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Schutzmassnahmen beklagen, dass sie wegen ihrer Meinung angefeindet oder als "Corona-Leugner" bezeichnet würden und deshalb die Meinungsfreiheit ausgehöhlt werde. Hierzu sagt Maya Hertig: "Wer eine kontroverse Meinung äussert, muss auch zugespitzte Meinungen der Gegenseite aushalten. Es gehört dazu, dass man dann rhetorisch angegriffen wird. Es gibt kein Recht, nicht kritisiert zu werden."

    Ein weiteres Argument von "Corona-Skeptikern": Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem keine abweichende Meinung geäussert werden dürfe. So schreibt zum Beispiel das Web-Portal Rubikon, das Verschwörungstheorien nahesteht: "Versuchen Sie einmal, im Freundes- und Familienkreis die Gefährlichkeit von Covid-19 zu 'leugnen'. Versuchen Sie, den Sinn und Zweck des Impfens in Frage zu stellen. Es kann sein, dass Sie so aggressiven Gegenwind ernten, dass Sie beim nächsten Mal lieber stumm bleiben." Anders zu denken sei sozial geächtet und Meinungsfreiheit damit de facto nicht möglich.

    "Meinungsfreiheit braucht natürlich ein gewisses gesellschaftliches Klima", sagt Hertig. "Wenn ein Klima herrscht, das zu Selbstzensur führt, ist das ein Problem." Dazu gehören Gewalt und Drohung, Entlassungen, aber auch vehemente verbale Angriffe auf Andersdenkende.

    "Shitstorms" können da laut Hertig ebenfalls ein Problem darstellen. Nur sehen sich oft jene als Opfer, die den eigentlich aggressiven Part einnehmen: "Häufig wird der gesellschaftliche Druck zu 'political correctness' übertrieben dargestellt und das führt zu einer Opfer-Täter-Umkehr: Opfer ist der weisse Rassist, nicht der mit Hassrede konfrontierte Schwarze."

    Soziale Kontrolle und ihre Rolle in der Pandemie

    Drohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Politiker haben während der Pandemie zugenommen – von Gewalt und Drohung gegen Corona-Skeptiker hingegen ist zumindest in der Schweiz nichts zu spüren. Jede und jeder kann seine Meinung frei äussern und an Corona-Demonstrationen teilnehmen.

    Ob aber das soziale Umfeld der Rebellen deswegen Freudensprünge aufführt, ist eine andere Frage. "Wenn Corona-Skeptiker sich eingeschränkt fühlen, etwas zu sagen, liegt das häufig nicht an eingeschränkter Meinungsfreiheit, sondern an sozialer Kontrolle", sagt Urte Scholz, Professorin für Angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität Zürich.

    Wenn manche "Corona-Skeptiker" also die Meinungsfreiheit bedroht sehen, können sie damit höchstens den sozialen Druck meinen, der es erschwert, eine Abweichende Meinung zu äussern.

    Mit sozialer Kontrolle versuchen Menschen, ihre Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. "Soziale Kontrolle findet grundsätzlich statt, ob wir das wollen oder nicht", erklärt Scholz. "In einem sozialen Miteinander passiert sie, weil wir aufeinander reagieren." Und gerade in einer Pandemie könne soziale Kontrolle häufiger sein, weil sie durch die offiziellen Verhaltensempfehlungen und -regeln legitimiert sei.

    Positive Strategien statt Zurechtweisen und Kritisieren

    Doch: Es gibt verschiedene Wege, soziale Kontrolle auszuüben. Manche führen beim Gegenüber zu positiven Gefühlen, andere zu negativen. So kommt es durch Bestrafung, Nörgeln, Liebes- oder Freundschaftsentzug oder durch das Erzeugen eines schlechten Gewissens bei den "kontrollierten" Personen zu Scham oder Ärger.

    In Studien zu sozialer Kontrolle in Bezug auf das Gesundheitsverhalten bei Paaren fanden Scholz und ihr Team heraus, dass diese negativen Strategien wenig bringen. Sie konnten keinen Zusammenhang feststellen zwischen "negativer" sozialer Kontrolle und einem gesünderen Verhalten. Im Gegenteil: Die kontrollierten Personen machten häufig gerade nicht das, was ihre Partner erwarteten – entweder demonstrativ oder heimlich.

    Anders reagierten jene Personen, die mit positiven Strategien der sozialen Kontrolle konfrontiert waren. Zu den positiven Strategien gehören Diskutieren, Verhandeln, Überreden, das Aufzeigen von Vorteilen des angestrebten Verhaltens, der Verweis auf positive Beispiele und Komplimente. Übte der Partner solche positiv erlebte soziale Kontrolle aus, änderten die "kontrollierten" Personen ihr Verhalten eher und fühlten sich besser.

    "Jetzt erst recht nicht!"

    Negative soziale Kontrolle, wie sie gegenwärtig in der Öffentlichkeit zum Beispiel durch böse Blicke oder schroffes Zurechtweisen vorkommt, sei zwar in einer Pandemie nicht unüblich. Doch: "Unter Umständen reagieren manche Menschen dann eben gegenteilig: Sie sehen eine Diktatur am Werk und weigern sich, die Massnahmen einzuhalten." Diese Menschen fühlten sich bevormundet, widersetzten sich und versuchten, ihre Autonomie wiederherzustellen.

    Die Forschungsresultate von Urte Scholz zeigen: Positive Strategien sozialer Kontrolle wäre auch während der Pandemie wünschenswert. Das hiesse: Mit Kritikern der Schutzmassnahmen in Dialog treten, sich austauschen, andere Meinungen zulassen und ein Verhalten nicht über Druck oder negative Emotionen ändern wollen.

    Wenn jemand ohne Maske im Tram sitzt, könnte man zum Beispiel sagen: "Für mich wäre es wichtig, dass Sie eine Maske tragen, weil ich mich dann wohler fühle." Oder: "Sie haben die Maske bestimmt vergessen, das ist mir auch schon passiert." Oder dem anderen eine frische Maske anbieten.

    Sind solche Versuche nicht naiv und zum Scheitern verurteilt? "Ob das Gegenüber auf ein solches Angebot eingeht, hängt stark vom sozialen Kontext ab", sagt Scholz. Einen Versuch sei es aber wert – und allemal besser, als ihn schlicht einen "Idioten" zu nennen.

    Dies ist die gekürzte Version eines Beitrags vom 11. März auf dem Schweizer Online-Wissenschaftsmagazin higgs.ch.

    Serie Stimmen der Freiheit aus aller Welt

    • Folge 1:  1.  Weltforum für Demokratie 2022 – acht Stimmen der Freiheit aus Luzern
    • Folge 2:  2.  Meinungsfreiheit im Ishigaki-Stil
    • Folge 3:  3.  Freie Medien in einer unfreien Gesellschaft
    • Folge 4:  4.  Pressefreiheit: ein Fundament der modernen Demokratie
    • Folge 5:  5.  Asylbewerberin: Wir alle brauchen das Recht auf freie Meinungsäusserung
    • Folge 6:  6.  Brasilianischer Komiker: Meinungsfreiheit "hat einen Preis"
    • Folge 7:  7.  Nabil al-Asidi: Todesurteil gegen Pressefreiheit
    • Folge 8:  8.  Thailändischer Demokratie-Verfechter auf Gratwanderung
    • Folge 9:  9.  Marie Maurisse: Pressefreiheit auch in der Schweiz unter Druck
    • Folge 10:  10.  Dieser Journalist will nicht Pressesprecher eines Milliardärs werden
    • Folge 11:  11.  Der italienische Journalist, der aus politischen Gründen unter Schutz steht
    • Folge 12:  12.  "In Russland wurden hundert neue Gesetze verabschiedet, welche die Pressefreiheit einschränken"
    • Folge 13:  13.  "Werden die Medien 'getötet', verliert die Gesellschaft"
    • Folge 14:  14.  Das Recht als Stolperstein für die Pressefreiheit
    • Folge 15:  15.  Wer in der Schweiz das Sagen hat
    • Folge 16:  16.  Petitionen: scheinbar zahnlos und doch fundamental
    • Folge 17:  17.  Audrey Tang, wie werden soziale Medien sozial?
    • Folge 18:  18.  Gesetze? Die Schweiz tickt anders auf den sozialen Medien
    • Folge 19:  19.  Eine Internetregierung in Rousseaus Heimatstadt
    • Folge 20:  20.  Karikaturen – Seismographen der Meinungsfreiheit
    • Folge 21:  21.  Was Meinungsfreiheit bedeutet – und was nicht
    • Folge 22:  22.  Freie Meinung: universell, aber nicht absolut
    • Folge 23:  23.  Wirtschaftskriminelle versuchen, die Presse mundtot zu machen
    • Folge 24:  24.  Cyber-Expertin warnt vor Gefahren durch unregulierte soziale Medien
    • Folge 25:  25.  Wer herrscht über die Meinungsfreiheit?
    • Folge 26:  26.  Hitziger Streit um gendergerechte Sprache
    • Folge 27:  27.  SWI swissinfo.ch – Plattform der Stimmen der Meinungsfreiheit
    • Folge 28:  28.  Können Sie frei sagen, was Sie meinen?

    Wenn Zeitungen nicht vom Staat bestimmt werden

    In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

    Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

    Wie nennt man die Einschränkung der Medien durch den Staat?

    Pressefreiheit, genauer die äußere Pressefreiheit, ist das Recht von Einrichtungen des Rundfunks, der Presse und anderer Medien auf ungehinderte Ausübung ihrer Tätigkeit, vor allem auf die staatlich unzensierte Veröffentlichung von Nachrichten und Meinungen.

    Was bedeutet eine Zensur findet nicht statt?

    Ähnlich wie in anderen demokratischen Ländern ist die Frage, ob bestimmte Ereignisse, Maßnahmen, Zustände und Gesetze als Zensur bezeichnet werden können, gesellschaftlich umstritten. Eine Vorzensur als Zensur im klassischen Sinn ist nach dem Grundgesetz Artikel 5 („Eine Zensur findet nicht statt. “) verfassungswidrig.

    Was steht im Grundgesetz über Medien?

    (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.

    Ist die Pressefreiheit ein Menschenrecht?

    Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten Die Pressefreiheit ist ein Kernbereich der Menschenrechte.