Geschichten zu erzählen (Storytelling) ist eine sehr kraftvolle Art, die eigene Botschaft zu verbreiten – daher auch der Hype um Storytelling gerade in Wirtschaft und Politik. Das liest sich dann z. B. so: Show
Die meisten dieser „profound stories“ gehören aber in den Bereich der hagiografischen Erbauungsliteratur für Führungskräfte. Sie sind post-hoc-Rationalisierungen, in denen im Nachhinein das Zusammenspiel von Talent und (glücklichen) Zufällen als das Werk eines von visionärer Weitsicht geleiteten Unternehmers gedeutet wird. Woher aber nehmen Geschichten diese Kraft? Das Gehirn organisiert Wissen in GeschichtenSchank und Abelson [1], zwei amerikanische Psychologen, die u. a. Grundlegendes zur KI-Forschung beigetragen haben, gehen davon aus, dass Geschichten (als erinnerte eigene Erfahrungen und Erfahrungen Dritter) grundlegende Bestandteile des menschlichen Gedächtnisses, des Wissens und der sozialen Kommunikation sind. Sie argumentieren, dass
Einen Sachverhalt zu verstehen bedeutet nach dieser Sicht, einen Bezug (vielleicht sogar eine Übereinstimmung) zu bereits indizierten Geschichten zu finden. Die bekannte Geschichte dient der Interpretation der neuen Erfahrung. Eine komplexe Aufgabe wird so mit einer überschaubaren Heuristik gelöst: Finde eine Geschichte, die der hier ähnelt und Bingo! Einen anderen Menschen zu verstehen bedeutet entsprechend, die Geschichte(n) des anderen auf die eigenen Geschichten abzubilden zu können. Neues tut sich dabei schwer, denn wir müssten ja Überzeugungen überarbeiten, neue Verallgemeinerungen vornehmen und andere aufwendige kognitive Operationen durchführen – ein Aufwand, den wir eher scheuen. Wer einen Hammer hat, für den sieht alles erstmal aus wie ein Nagel. Geschichten sind nicht dazu da, hinterfragt zu werdenWarum wir auf Neues eher träge reagieren, erklärt sehr anschaulich der israelische Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman [2]. Er unterteilt die geistigen Aktivitäten in zwei Systeme:
Beide Systeme waren und sind überlebensnotwendig. Die Überlebens-Reaktion ‚Flucht oder Kampf‘ wird nicht „nach Einbeziehung aller Umstände und Würdigung in einer wertenden Gesamtschau“ getroffen. Individuen, die so handelten, hinterließen keine Nachfahren. System 1 legt vielmehr in Sekundenbruchteilen eine Lagebeurteilung vor und das Individuum kann handeln. System 2 hingegen ist gerade im sozialen Kontext wichtig. Die Frage, ob jemand z. B. ein verlässliches Gruppenmitglied ist, lässt sich nur aufgrund eigener Erfahrungen oder der Erfahrungen Dritter zuverlässig beantworten. Anders formuliert: System 1 schlägt aus wenigen Informationen eine Geschichte vor. System 2 lässt die Geschichte passieren, wenn sie plausibel, also im Wesentlichen widerspruchsfrei ist. Das Paradoxe daran: Je weniger Informationen vorliegen, desto eher ist eine Geschichte widerspruchsfrei. Mehr Informationen führen also im Zweifel dazu, dass System 2 sich zuschaltet. Die Akzeptanz von Informationen ist quasi die Voreinstellung im Gehirn. Kritisches Hinterfragen muss bewusst angestoßen werden. Das geht so weit, dass wir selbst in einem fiktionalen Text Aussagen glauben, die in der realen Welt falsch sind. Nur wenn wir aus irgendeinem Grund motiviert und in der Lage sind, die Wahrhaftigkeit von Informationen zu beurteilen, fangen wir an, sie zu hinterfragen [3]. Ein weiteres Merkmal ist, dass System 1 nur verfügbare Informationen verwendet. Kahneman nennt das „what you see is all there is“. Das aber fördert Fehlschlüsse. Er bringt folgendes Beispiel: Eine Person wird als schüchtern und zurückgezogen, als hilfreich, aber mit wenig Interesse an Menschen oder der Welt beschrieben. Sie kann sich aber für Ordnung und Struktur begeistern. Ist diese Person eher ein Bibliothekar oder ein Landwirt? System 1 wird „intuitiv“ auf Bibliothekar tippen und damit falsch liegen. Denn für die Antwort auf die Frage sind alle verfügbaren Informationen unerheblich. Man müsste vielmehr wissen, ob es in Deutschland mehr Bibliothekare oder Landwirte gibt. Wäre die Frage System 2 vorgelegt worden, hätte es vielleicht versucht, die Antwort über einen Umweg zu finden: „Gibt es wohl mehr landwirtschaftliche Betriebe oder mehr Bibliotheken in Deutschland?“ System 1 aber macht keine kreativen Umwege. In Geschichten geschieht nichts ohne GrundNassim Talib [4] verweist auf eine weitere Schwäche, die dem Denken in Geschichten innewohnt – den erzählerischen Fehlschluss (narritive fallacy). Wir sind nur eingeschränkt in der Lage, eine Abfolge von Tatsachen als solche zu belassen. Um zu „verstehen“, verbinden wir die Fakten, geben ihnen eine Richtung oder erklären das eine Faktum aus dem anderen. Indem wir den Fakten „Sinn“ verleihen, machen wir sie nicht nur einprägsamer, wir verstärken auch unseren Eindruck, wir würden sie verstehen. Der Rückschlag kommt dann, wenn wir mit solchen Geschichten versuchen, gegenwärtige Ereignisse zu analysieren. Geschichten machen dümmerTyler Cowen, ein amerikanischer Ökonom mit einem sehr lesenswerten Blog (marginalrevolution.com), trägt zusammen, welche Probleme er mit Storytelling hat [5]. Geschichten werden nicht nur ausschließlich aus vorhandenen Informationen erstellt. Sie verarbeiten nicht einmal alle verfügbaren Informationen. Im Gegenteil – sie wirken wie Filter. Was nicht in die Erzähllogik passt, wird passend gemacht oder fliegt raus. Das hat mehrere Gründe:
Die Botschaft von Cowen ist, dass wir uns des Kontextes, in dem wir Geschichten nutzen, bewusster sein müssen. Wir müssen erkennen, wie Geschichten die Entscheidungen beeinflussen (sollen), die wir in der realen Welt treffen. Ein schönes Beispiel dafür, welche realen Folgen Storytelling haben kann, bieten Akerlof & Shiller [6] mit dem mexikanischen Öl-Boom Ende der 1970er Jahre. Nach der Entdeckung weiterer Ölvorkommen begann der damalige Präsident López Portillo die Geschichte von ungeahntem Wohlstand und dem Einfluss von Mexiko als Öl-Nation in der Welt zu spinnen. Die Zuversicht auf dieses „neue Mexiko“ führte tatsächlich zu einem (kreditfinanzierten) wirtschaftlichen Wachstum, das am Ende seiner Amtszeit in einem verheerenden Crash, einer 100-%-Inflation und in einer Rezession endete, die bis weit in die 1980er Jahre dauerte. Auf den Punkt gebrachtOffenbar können wir nicht ohne Geschichten, aber wenn Geschichten wirklich so gefährlich sind, dann muss man sich wundern, dass die letzte Geschichte des Homo Sapiens nicht vor 200.000 Jahren am Lagerfeuer in der Höhle erzählt wurde. Das Problem liegt vermutlich nicht so sehr darin, dass wir unser Denken mit Geschichten organisieren. Es liegt vielmehr darin, dass wir oft nur EINE Geschichte erzählen, diese für wahr halten und sie mit Zähnen und Klauen verteidigen. Gerade Wirtschaft und Politik sind voll von solchen Beispielen. Die nigerianisch/amerikanische Schriftstellerin, Chimamanda Ngozi Adichie, bringt die Gefahr der EINEN Geschichte auf den Punkt: Geschichten enthalten (auch) Stereotyen. Stereotypen müssen nicht falsch sein, aber sie sind immer unvollständig. Um das auszugleichen, brauchen wir viele Geschichten.
Weiterführende Hinweise[1] Schank, R. C. & Abelson, R. P. (1995). Knowledge and Memory: The Real Story. In: Robert S. Wyer, Jr (ed) Knowledge and Memory: The Real Story. Hillsdale, NJ. Lawrence Erlbaum Associates. 1-85. (Link) [2] Kahneman, D., & Egan, P. (2011). Thinking, fast and slow. [3] Prentice, D. A., Gerrig, R. J., & Bailis, D. S. (1997). What readers bring to the processing of fictional texts. Psychonomic Bulletin & Review, 4(3), 416-420. (Link) [4] Taleb, Nassim. (2007). The Black Swan. [5] Cowden, Tyler. (2009). Be suspicious of simple stories. (Link) [6] Akerlof, G. A., & Shiller, R. J. (2010). Animal spirits: How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism. [7] Chimamanda Ngozi Adichie. (2009). The danger of a single story. (Link)
Warum erzählt jemand immer das Gleiche?Es kann vorkommen, dass "normal" vergessliche Menschen entfernten Freunden noch einmal die gleiche Geschichte erzählen. Menschen mit Alzheimer Demenz erzählen die gleiche Geschichte unter Umständen mehrmals innerhalb einer Stunde derselben Person.
Wie nennt man Menschen die nur von sich erzählen?Ego-Talk: Wenn Menschen nur über sich reden.
Warum müssen manche Menschen ständig reden?Letztlich stecken zwei Ursachen hinter der langen Redezeit – eine ganz banale und eine wissenschaftlich erforschte: Der banale Grund ist: Wir sind soziale Wesen. Als solche haben wir einen angeborenen Hunger nach Beachtung und Anerkennung. Wir wünschen uns, dass uns andere Menschen zuhören.
Warum redet jemand ununterbrochen?Als Ursachen krankhafter Geschwätzigkeit kommen Erkrankungen der Schilddrüse oder Demenz in Betracht. Logorrhoe kann aber auch Folge eines Schlaganfalls sein. Manchmal versteckt sich dahinter auch eine schwere psychische Erkrankung wie Schizophrenie oder eine bipolare Störung.
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