In welcher Epoche lebte Mascha Kaleko?

The editor of The High Window is grateful to the estate and publishers of Mascha Kaleko for permisssion to publish these versions of six poems by Mascha Kaleko alongside their German originals.

From Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden
© 2012 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.

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Mascha Kaléko is a delightfully frank and direct German poet, using rhyme and metre. She was born Golda Malka Aufen in 1907 in Galicia (now in Poland) to parents of Jewish descent: they moved to Germany, settling in Berlin in 1918. She married Saul Aaron Kaléko, and became a noted popular poet, published by Rowohlt. Remarried, she lived from 1938 to 1956 in the USA, mostly in Greenwich Village, and from 1959 in West Jerusalem. She died in Zürich in1975.

Timothy Adès translates poetry, mostly with rhyme. He has several books of French and Hispanic poets, and awards for them. He edited The High Window’s voluminous French translation supplement (December 2021) and had poems in the Austrian supplement in that year. In German his main poets are Brecht and Ricarda Huch. He rewrote Shakespeare’s 154 Sonnets without using letter E and, before Covid, ran a bookstall of translated poetry.

1 Caroline Nilstad Poetologische Dimensionen bei Mascha Kaléko Eine Untersuchung dreier Gedichte mit einleitender Funktion Masterarbeit Trondheim, Mai 2018 Betreuung: Prof. Dr. Ingvild Folkvord Norwegens technisch-naturwissenschaftliche Universität Humanistische Fakultät Institut für Sprache und Literatur

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3 Sammendrag Mascha Kaléko ( ) er en av de tyskspråklige lyrikerne som er i ferd med å bli gjenoppdaget, men det mangler likevel forskning knyttet til hennes egen poetologiske refleksjon. Kaléko har lenge blitt forstått som en underholdende, lett forståelig forfatter som nettopp av den grunn ikke har blitt ansett som en del av den «høye» litteraturen. I denne masteroppgaven har jeg utfra et fokus på sjangeren «poetologisk lyrikk» og ved hjelp av Genettes paratekst-begrep gjort et tekstutvalg bestående av tre dikt fra Kalékos verk. Diktene kjennetegnes av den skriftstrategiske plassen de innehar som «forord» i ulike diktsamlinger. Denne bidrar til å framheve betydning deres i verket og hvordan de henvender seg til leseren. Samtidig tematiserer de tre diktene forskjellige poetologiske aspekter knyttet til forfatterens, leserens og lyrikkens rolle. Diktene som inngår i utvalget mitt er «Quasi ein Januskript», «Kein Neutöner» og «Hat alles seine zwei Schattenseiten» og stammer fra tidsrommet Mens det første diktet tematiserer forfatteren, og det andre verkets posisjonering i litteraturhistorien, vektlegger det tredje sterkere leserens frihet og ansvar i tolkningsprosesser. Med fokus på lyrikkens mulighetsbetingelser slik de beskrives i teori om sjangeren og slik Kaléko selv tar stilling til dem i brev og intervju, nærleser jeg de tre diktene i kronologisk rekkefølge. Ved hjelp av analysen av verkinterne og eksterne referanser drøfter jeg hvordan Kalékos verk kan plasseres i en bredere litterær tradisjon. Viktig er her umarkerte sitater (først og fremst fra Johann Wolfgang von Goethe og Heinrich Heine), topoi, troper, rim, vers- og strofeorganisasjon. Som analysene viser, fremstår forfatteren som kreativ og skapende innenfor rammene gitt av tradisjonen. Disse rammene utforskes i verket på en dialogisk måte sammen med leseren. På denne måten kan Kalékos lyrikk anses som en slags brukslyrikk («Gebrauchslyrik») som henvender seg til leseren, men som samtidig blir et verktøy i forfatterens eget arbeid med å forstå verden. Ved å inkludere etablerte troper, idiomer og diktformer som alluderer til en folkelig tone («Volkslied», «Bänkelsang», «Unsinn- und Sinngedicht») skaper diktene en umiddelbar resonans hos leseren samtidig som de åpner for videre tolkning. Slik bidrar Kalékos poetologiske lyrikk til å tematisere litteraturens verdi på en måte som stiller spørsmål ved etablerte forestillinger om forholdet mellom høy og lav litteratur. iii

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5 Für Emma und Anne Danksagung Zuerst möchte ich mich bei meiner Betreuerin, Prof. Dr. Ingvild Folkvord, bedanken, die schon vom ersten Augenblick an die Arbeit zu Mascha Kaléko geglaubt und mich auf meinem Weg mit Rat und Tat unterstützt hat. Die vielen persönlich bereichernden, inspirierenden und lehrreichen Gespräche werden mir noch lange und in guter Erinnerung bleiben. Mir Mut zuzusprechen und mein Denken herauszufordern, war genau die richtige Strategie. Auch Dr. Jutta S. Schloon danke ich dafür, dass sie sich für mich Zeit genommen hat, um mit mir meine Baustellen zu diskutieren. Ihr Steinbruch und ihr strenger Zeitplan waren bei meiner weiteren Arbeit sehr hilfreich! Ein ganz besonderes Dankeschön an meine Mama, die in mir die Begeisterung für Bücher geweckt und mein Leben lang bestärkt hat. Danke für eure Unterstützung, Papa, ohne euch wäre ich nie so weit gekommen! Auch Bjørn danke ich für sein Vertrauen, dass ich alles unter einen Hut bekommen kann. v

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7 Nicht immer ist da ein streng erhobener Zeigefinger am Platze, Es gibt Dinge zwischen Himmel und Rechtschreibung Horatio! Mit Buchstabenkritik und tierischem Ernst ist dieser Art von Lyrik nicht beizukommen Mascha Kaléko, vii

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9 Inhalt 1 meine Zeit muss wieder kommen Theoretische und methodologische Überlegungen Quasi ein Januskript Gegensätze und Integration Verstand versus Gefühl? Dynamische Identitätsarbeit Engagement für die Welt Kein Neutöner Von Vögeln und singenden Dichtern Heimatlosigkeit und Aktualisierung von Traditionen? Modern, innovativ und neu? Vom Schätzchen zum Spätzchen Hat alles seine zwei Schattenseiten Spiel mit Sprichwörtern Vom Lesen und Deuten Vom Entstehen eines Buches Schlussbemerkung Relevanz der Masterarbeit für meinen Beruf als Deutschlehrerin Literatur Primärtexte Sekundärliteratur... 57

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11 Einleitung 1 meine Zeit muss wieder kommen Geliebt von ihren Lesern in der Weimarer Republik, dafür später umso stiefmütterlicher von der Literaturwissenschaft behandelt, gehört Mascha Kaléko ( ) heute zu den Lyrikerinnen, die immer wieder gern in Anthologien aufgenommen werden. Auch die vielzähligen Neuauflagen ihres Werks beim Deutschen Taschenbuch Verlag lassen darauf schließen, dass Kalékos Gedichte ihre Leser noch immer bewegen, dass sie noch immer einen lyrischen Ausdruck hat, der berührt, sodass auch ihre Gedichte heute noch gern gelesen werden. Die Schriftstellerin stammte aus einer jüdischen Familie aus Chrzanów in West- Galizien, emigrierte 1914 nach Deutschland und wurde Anfang der 1930er durch Veröffentlichungen ihrer Gedichte in Berliner Zeitschriften bekannt. Ihr Erstling Das lyrische Stenogrammheft Verse vom Alltag (1933) wurde im Jahre der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ein Bestseller. Auch ihr Nachfolger aus dem darauffolgenden Jahr Kleines Lesebuch für Große (1934) wurde ein Erfolg. Kalékos Biographin Jutta Rosenkranz begründet ihre Beliebtheit bei den Lesern damit, dass es ihr gelinge, die Ängste, Sorgen und Hoffnungen der Menschen genau zu schildern und in wenigen Zeilen in einer Mischung aus Melancholie und Heiterkeit auf den Punkt zu bringen (Rosenkranz, 2009, S. 36). Ihre Gedichte sind eingängig formuliert, sie scheinen nichts zu verbergen oder zu verkomplizieren; im Gegenteil, Kaléko erstrebt das Einfache und fordert von sich einen verständlichen Ausdruck, mittels dessen sie mit Fragen ihres Lebens und der Zeit arbeiten kann. Doch die scheinbare Schlichtheit, die einst gelobt wurde, begeistert die Literaturkritiker nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr. Laut Eva Demski, selbst Schriftstellerin und Rezensentin, wird in Deutschland [verehrt], was möglichst dunkel daherkommt und da nützt [es] nichts zu wiederholen, das Einfache sei gerade das Schwere. (Demski, 2006, S. 161). So wird nicht nur angespielt auf die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und Kalékos Vertreibung ins Exil, sondern auch auf die Entwicklung der Dichtung im Nachkriegsdeutschland als Gründe für ihren lange verwehrten Eingang in die Literaturgeschichte. Diese Vernachlässigung in der Literaturwissenschaft spiegelt sich auch vor allem darin wieder, dass bisher kaum die poetologische Dimension ihrer Lyrik herausgearbeitet wurde, die hier im Zentrum steht. 1

12 Einleitung Kaléko aber bleibt in ihren Publikationen ihrem Stil treu, für den sie vor dem Zweiten Weltkrieg bekannt und geschätzt wurde. Doch [d]er leichte, anmutige, manchmal fast aphoristische, dann wieder liedhafte Ton ihrer Gedichte stößt auf Mißtrauen, ja Mißachtung., schreibt Demski (2006, S. 161) weiter und spielt damit auf Kalékos berufliches Auf und Ab während und nach dem Zweiten Weltkrieg an. Der Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer, das Schreibverbot 1935 und der fortschreitende Pogrom zwangen sie 1938 mit ihrem zweiten Mann, Chemjo Vinaver, Komponist, Dirigent und Sammler jüdischer Choralmusik, und mit ihrem kleinen Sohn in die USA auszuwandern. Unter den erschwerten Bedingungen im Exil, dem Verlust ihrer Leser und Publikationsmöglichkeiten litt die Autorin zeitlebens. Erst 1956, über zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zur Neuauflage des Lyrischen Stenogrammhefts (1956) beim Rowohlt Verlag, besuchte Kaléko erstmals wieder Deutschland. Heimat sollte ihr dieses Land nicht mehr werden, denn sie blieb amerikanische Staatsbürgerin und siedelte ihrem Mann zuliebe 1959 nach Jerusalem über. Mit dem Kontaktverlust zu ihren deutschsprachigen Lesern nahm jedoch auch ihr Erfolg zeitweise ab. Doch auch die veränderten Vorstellungen, die an Lyrik herangetragen wurden, erschwerten Kaléko lange ihre literarische Rückkehr. Zwar trugen die Öffentlichkeitsarbeit und die posthumen Wiederveröffentlichungen der Nachlassverwalterin Gisela Zoch-Westphal, die Doktorarbeit der Literaturwissenschaftlerin Irene Astrid Wellershoff (Wellershoff, 1982), in der sie das gesamte Werk sichtet und literaturgeschichtlich einordnet und bewertet, sowie die Veröffentlichung einer Gesamtausgabe mit Kalékos Werken und Briefen (Rosenkranz & Prokop, 2012) maßgeblich zur (Wieder-) Entdeckung der Lyrikerin bei, doch näherte man sich Kalékos Werk in erster Linie biographisch. 1 Das Hauptinteresse an Kaléko bestand deshalb hauptsächlich darin, die Schriftstellerin vor dem Vergessen zu bewahren (vgl. Biographie, Rosenkranz, 2009). Fragen zu Kalékos Poetologie wurden dabei nur am Rande gestellt, weil eine genaue Analyse ihrer Gedichte als zu übertrieben für ihr leicht verständliches Werk galt, lange gar als pedantisch angesehen wurde (vgl. auch Wellershoff, 1982, S. 3). Während zeitgenössische Rezensenten 1 Mittels Künzels Konzept der Autorinszenierung betont Swiderski, dass das biographische Interesse an der Autorin auch dadurch erklärbar sei, dass Kaléko selbst eine autobiographische Lesart intendierte und sich auf diese Weise auch als Schriftstellerin im literarischen Raum inszenierte. Kalékos Spiel mit der Öffentlichkeit zeichnet Swiderski in einer knappen Gedichtauswahl nach (Swiderski, 2010). Damit lässt sich auch der Erfolg ihrer Gedichte durch deren Identifikationspotenzial, das für Kalékos Popularität vor dem Zweiten Weltkrieg entscheidend war, erklären. 2

13 Einleitung Kalékos Popularität und Verständlichkeit lobend hervorgehoben hatten, 2 schien diese anfangs einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrem Werk hinderlich zu sein, wurde sie doch in der Nachkriegszeit häufig angesehen als Trivialautorin, die nur für den Tag geschrieben habe, Lyrik zum schnellen Verbrauch (Pankau, 2010, S. 86; vgl. auch Nachruf von Krüger, 2009; Reich-Ranicki, 1999). Wie Rosenkranz im Epilog ihrer Kaléko-Biographie (2009) feststellt, fehlte die Autorin noch bis in die späten 1990er Jahre in einschlägigen Standardwerken der Literaturwissenschaft. 3 Wie es sich in Reich-Ranickis einflussreicher Einschätzung erahnen lässt, 4 wird Kaléko ihre Nähe zur Gebrauchslyrik, einem mehrdeutigen Begriff, der in engem Zusammenhang mit der ebenfalls uneindeutigen Epochenbezeichnung Neue Sachlichkeit einhergeht, 5 zum Vorwurf gemacht. Gleichzeitig wurde ihre Lyrik als epigonal bezeichnet und damit als politisch naiv, oberflächlich (Wellershoff, 1982) und weniger wertig angesehen als die von männlichen Kollegen wie zum Beispiel Kurt Tucholsky oder Erich Kästner. Doch mit Reich-Ranickis Gedichtinterpretation wuchs das Interesse für Kaléko und sie wurde aufgrund ihres frühen Erfolgs literaturgeschichtlich in die Zeit der Literatur der Weimarer Republik (Bayerdörfer, 2010; Becker, 2003; Pankau, 2010; Puszkar, 2014) eingeordnet. Innerhalb dieser Forschung weckten besonders Themen das Interesse wie die Darstellung der Liebe (Korte, 2003), der Großstadt, insbesondere Berlins (Brittnacher, 2010), Kalékos Nähe zum Kabarett (Meyer, 2016) sowie der Neuen Frau (Becker, 2003; Schöneich, 2013; Swiderski, 2010). Durch die Exilforschung wurde Kaléko auch als Vertreterin der Exillyrik (Riegel & Rinsum, 2000; Schmeichel-Falkenberg, 1998; Tippelskirch, 2003) weiter entdeckt. Einzelaspekte wie Kalékos Sprachbiographie (Lange, 2002) und ihr Selbstverständnis als 2 Zu ihren prominenten zeitgenössischen Kritikern gehörten unter anderem Hermann Kesten oder Kurt Pinthus. Auch Hermann Hesse, Thomas Mann und Albert Einstein äußerten sich positiv über Kalékos Texte (siehe auch Prokop, 2018, 2012; Rosenkranz, 2009) taucht Kaléko erstmals im Wilpert auf, 1990 im Killy, 1995 im Brockhaus Literatur, 1998 im Kindler (Rosenkranz, 2009, S. 257). 4 Bedeutende Poesie? Ach, nein, es ist eben Gebrauchslyrik, eine Dichtung für nüchterne Leute, die es eilig haben, für solche, die sich um Literatur und Kunst nicht kümmern. Es ist Poesie für die Zeitung und also für den Alltag. (Reich-Ranicki, 1999, S. 194) 5 Der Terminus Neue Sachlichkeit wurde 1923 vom Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub eingeführt und bezieht sich auf vielzählige, teils widersprüchliche Strömungen innerhalb der Kunst und Literatur der 1920er Jahre (Hoffmann, 2001). Während der Zeit der Weimarer Republik äußerten sich auch Schriftsteller wie Bertolt Brecht und Erich Kästner zum Gebrauchswert von Literatur und insbesondere von Lyrik. Brecht hält in diesem Zusammenhang den didaktischen Anspruch für zentral, der sich in der Geste der Mitteilung eines Gedankens (Brecht, 1927/1992, S. 191) kristallisiert. Ähnlich wie Brecht und Erich Kästner, der ebenfalls dafür plädiert, dass Lyrik ihren Lesern durch Verständlichkeit und Wirklichkeitsbezug im Alltag nutzen sollte (Hoffmann, 2001), deutet Kaléko ihre Lyrik in der Tradition Heinrich Heines als Zeitlyrik, die zu aktuellen Lebensbedingungen Stellung nimmt, und deren Gedichte Einsichten verständlich mitteilen sollen. Darauf wird in Kapitel 3 und 4 noch genauer eingegangen. 3

14 Einleitung Exilschriftstellerin (Lange, 2002; Schrader, 2012), ihr Judentum (Tippelskirch, 2003), der Einfluss Heinrich Heines (Nolte, 2007) und Fragen zu Außenseitertum und Heimatlosigkeit (Bednarowska, 2009, 2010) fanden somit ebenfalls Eingang in die Forschung. Auch eine Einzelstudie innerhalb der Parömiologie zu Leben und Werk im Spiegel ihrer sprichwörtlichen Dichtung (Nolte, 2003) widmet sich der Autorin und beschäftigt sich somit trotz starker biographischer Annäherung mit den formal-ästhetischen Eigenschaften ihres Werks. Ausgeblieben ist jedoch bisher die Auseinandersetzung mit Kalékos Poetologie und ihrem Spiel mit den poetologischen Dimensionen Autor, Werk und Leser. Um sich ihren poetologischen Reflexionen zu nähern, fokussiert die vorliegende Arbeit auf drei Gedichte von Mascha Kaléko, die alle eine einleitende Funktion in den zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbänden haben. Denn Kaléko schrieb sich nicht durch poetologische Essays und Vorträge (vgl. auch Nolte, 2003, S. 231) wie ihre männlichen Kollegen Brecht und Kästner oder ihre Schriftstellerfreundin Hilde Domin in die Literaturgeschichte hinein. Stattdessen wollte sie ihre Gedichte selbst wirken lassen. 6 Über ihre Gedichte hinaus äußerte sich die Lyrikerin höchstens sporadisch in Interviews oder in Briefen zu poetologischen Fragen. 7 Dennoch lässt sich in diesen nicht-literarischen Texten erkennen, dass sie dort das poetologische Spannungsfeld ähnlich thematisiert. Ihr lyrisches Credo (Kaléko, 2012c, S. 834), wie sie es selbst nennt, verblieb ein unveröffentlichtes Typoskript (Rosenkranz, 2012, S. 416). Doch wie diese Arbeit zeigen wird, beschäftigte sich die Autorin durchaus mit Fragen der Zeit und ihrer Dichtung. In ihrem Spiel mit literarischen Vorbildern präsentiert sie sich als Autorin, die über ihr Werk und über Literatur allgemein nachdenkt. Dadurch thematisiert sie in ihren Gedichten nicht nur das Verhältnis von Lyrik zur Welt, sondern auch zum Leser und die Bedingungsmöglichkeiten von Literatur überhaupt. Integriert ist in dieses Nachdenken über Literatur auch ihre Rolle als schreibende Frau, die über Geschlechterrollen reflektiert und mit traditionellen Rollenzuschreibungen spielt. 6 Vgl. Kalékos Äußerungen wie Ist es nicht die Stille, die der beste Mäzen ist? Wozu alles zerreden? (Kaléko zitiert in Rosenkranz, 2009, S. 192) oder ihr Vortrag Die paar leuchtenden Jahre, 1956 in Kassel: [D]as Beste, was ein Autor seinen Lesern zu geben mag, ist das, was in seinen Büchern steht (Kaléko, 2012c, S. 807) oder auch die Verszeile Gönnt der Autorin etwas Mystik (Kaléko, 2012c, S. 391). 7 Jutta Rosenkranz bezeichnet den Brief vom an ihren Lektor beim Rowohlt Verlag als als wichtigste Zeugnis, in dem MK ihren poetischen Stil erläutert und verteidigt. (Rosenkranz, 2012, S. 601). Auch Nolte hebt diesen Brief hervor, da er zeigt, dass Kaléko außerhalb ihrer Gedichte ebenfalls stark zu formelsprachlicher Ausdrucksweise neigt, [und] weil sie sich hier einige Gedanken zu ihrer Lyrik macht. (Nolte, 2003, S. 231). Dieser Brief wird in Kapitel 3 in Zusammenhang mit Quasi ein Januskript genauer betrachtet. 4

15 Einleitung Argumentiert wird in dieser Arbeit deshalb dafür, dass die rezeptionsfreundliche Seite ihrer Gedichte, die vor allem vom breiten Publikum geschätzt, aber von ihren Kritikern lange als etwas Banales abgestempelt worden ist (vgl. William, 2008, S. 82), Ausdruck von Kalékos poetologischer Auffassung von Dichtung überhaupt ist. Diesen Ausdruck bezeichnet die Autorin selbstbewusst als Kennzeichen ihres Kaléko-Stil[s] (Kaléko, 2012a, S. 599). Kalékos poetologische Auseinandersetzung kann folglich nicht nur verstanden werden als eine Weiterführung (oder in gewissem Sinne Innovation) von bereits vorhandenen literarischen Formen, Vorstellungen und Themen, sondern auch als eine Möglichkeit zur Selbstfindung und Weltentdeckung durch die Arbeit mit kulturellen Deutungsmustern, die Literatur bietet. Dadurch entsteht ein lyrischer Ausdruck, der nicht nur sich selbst und seine literarischen Traditionen thematisiert, sondern auch Literatur als lebendige, soziale Praxis. Auf der Grundlage des Gattungsbegriffs der poetologischen Lyrik sowie Genettes Paratexte (1992), insbesondere seine Definition des Vorworts, habe ich drei Gedichte ausgewählt, die im Hauptteil analysiert und interpretiert werden sollen. Diese sind Quasi ein Januskript (Kaléko, 2012c, S. 223), welches 1954 erstmals erschienen ist und den Band Verse für Zeitgenossen (1958) sowie den Gedichtband Verse in Dur und Moll (1967) einleitet, Kein Neutöner (Kaléko, 2012c, S. 301), mit welchem Das himmelgraue Poesie-Album der Mascha Kaléko (1968) beginnt, und Hat alles seine zwei Schattenseiten (Kaléko, 2012c, S. 361), welches den Eingang in den gleichnamigen Gedichtband von 1973 bildet. Diese drei Gedichte wurden in Gedichtbänden veröffentlicht, die zur späteren, zweiten Schaffensphase der Autorin gerechnet werden können, und sich über drei Jahrzehnte erstrecken. Dass Kaléko der Veröffentlichung ihrer Exilgedichte Verse für Zeitgenossen von 1958 in Deutschland statt einer Widmung erstmals ein Vorwort voranstellt, scheint nicht weiter verwunderlich, berücksichtigt man Kalékos Exilerfahrung, die Konfrontation mit einer neuen Sprache, der Verlust der alten Leserschaft und Popularität und das eigene Verhältnis zum Judentum und zur deutschsprachigen literarischen Tradition und den stilistischen Veränderungen der zeitgenössischen Lyrik. Diese regten sie dazu an, über ihr Schreiben und ihre Möglichkeiten als Poetin zu reflektieren und diese auch explizit und implizit in Gedichten auszudrücken. 8 Diesen einleitenden Gedichte ist eine besondere Aufmerksamkeit geschuldet, 8 Auch Swiderski kommt zu einem ähnlichen Schluss, warum in Kalékos Vorkriegslyrik keine expliziten poetologischen Gedichte aufweist. Die Exilsituation fordert eine Neuinszenierung des lyrischen Ichs als 5

16 Einleitung da sie als ein schriftstrategischer Ort (Holter, 1990, S. 55) Themen und formal-ästhetische Darstellung kondensieren, damit den Blick des Lesers lenken und so Aufschluss auf die drei Dimensionen Autor, Werk, Leser geben können. Zentral für meine Auseinandersetzung mit Kalékos Poetologie ist deshalb folgende Frage: Wie werden in Kalékos poetologischen Gedichten die Rolle des Dichters, die Verortung der Lyrik und die Rolle des Lesers verhandelt? weibliche Künstlerin, die selbstbewusst über die eigene literarische Konzeption und Verordnung reflektiert (Swiderski, 2010, S. 60). 6

17 Theoretische und methodologische Überlegungen 2 Theoretische und methodologische Überlegungen Die oben genannten Dimensionen sind typische Themen der Untergattung, die als poetologische Lyrik bezeichnet wird. Denn vereinfacht gesprochen handelt es sich hierbei um Gedichte, die Autor, Werk und Leser thematisieren (Lamping, 2016). Laut Strobel beschäftigt sich poetologische Lyrik mit den eigenen Möglichkeitsbedingungen (Strobel, 2015, S. 264). Der Leser wird herausgefordert, die Mehrfachkodierung, die jeden literarischen Text auszeichnet, bei Gedichten jedoch oft als besonderes Kennzeichen hervorgehoben wird, nicht nur zu erfassen, sondern auch in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen. Die Gemachtheit des Textes rückt deshalb bei der Gedichtanalyse besonders ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil poetologische Gedichte oft ihre eigenen Entstehungs- und Bedeutungsbedingungen [verhandeln] (Strobel, 2015, S. 268). Auf diese Weise wird einerseits Sprache als solches, aber auch Funktion, Wirklichkeitsbezug und Beschaffenheit von Literatur thematisiert und reflektiert. Laut Hildebrand (2003) verwirklichen poetologische Gedichte formal, was sie theoretisch fordern. So kann ein Gedicht, sofern es seine Form selbst schon als poetologische Substanz präsentiert, experimentell verwirklichen, was es als Aufgabe der Dichtung definiert. (Hildebrand, 2003, S. 1). Doch eine solche Aussage hat nicht normativen Charakter, sondern sollte als Reflexion des dichterisch Schaffenden zu seinem Selbstverständnis und zu seinem Werk verstanden werden, um so auch seine Kunst zu legitimieren. Dadurch wird poetologische Lyrik nicht darauf beschränkt, dass die ästhetische Ausgestaltung deckungsgleich ist zur inhaltlichen Aussage. Im Gegenteil, es eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Form und Denotation, weil die grafische, lautliche, rhythmische, strophische Gestaltung auch der sprachlich-inhaltlichen Ebene widersprechen kann. Das poetologische Gedicht konstituiert den Gegenstand in der künstlerischen Darbietung, löst das Gesagte also schon affirmativ ein oder subvertiert es selbstkritisch im performativen Widerspruch. (Hildebrand, 2003, S. 5). Die formal-ästhetische Gestaltung sowie die Wirkung auf den Leser sind bei der Analyse und Interpretation der textlichen Grundlage folglich zentral. Auch Strobel (2015) geht davon aus, dass sich poetologische Lyrik dadurch auszeichnet, dass sie entweder den Dichter, seine Aufgabe und Funktion thematisieren, über den schöpferischen Prozess während des Dichtens reflektieren oder auch formale Aspekte des Werks, seine sprachliche Ausgeformtheit und 7

18 Theoretische und methodologische Überlegungen seine rhetorischen Mittel betrachten. Auf diese Weise, so betont Hinck in der Tradition der Rezeptionsästhetik (zitiert in Hildebrand, 2003, S. 4), werden sowohl Werk als auch Autor, aber eben auch Leser Reflexionsgegenstand poetologischer Lyrik. Aufgrund dieser Verschränkung der drei Dimensionen Autor, Werk und Leser werden in der vorliegenden Arbeit traditionell-hermeneutische Ansätze mit wirkungsästhetischen verbunden. Denn erst im Vollzug des Lesens von einem aktiven Leser in einem bestimmten und damit veränderlichen Kontext kommt einem Text Bedeutung zu. 9 Wie auch Gadamer in seiner hermeneutischen Theorie betont, ist der Deutungsprozess nicht nur ein rein sinnorientiertes Lesen, es ist auch ein Singen, eine Vollzugswahrheit (Dutt, 2000, S. 63), die die Teilnahme am Deutungsprozess von einer Gegenwart des Lesers voraussetzt. Damit gestaltet sich das Verstehen des Gelesenen als etwas, das über das lineare, sinnorientierte Leseverständnis hinausgeht, weil es ein Vor- und Zurück im Text und ein Neuentdecken von Sinnbezügen und Klangbildern durch den Leser mit-einschließt. Hildebrand (2003) geht so weit, dass poetologische Lyrik nicht nur repräsentativ für das Selbstverständnis einzelner Dichter, sondern für die Dichtungsauffassung ganzer Epochen (S. 9) ist. Denn die Legitimationskrise der Dichtung, die durch industrielle Revolution und das naturwissenschaftliche 19. Jahrhundert ausgelöst und durch die Katastrophe des Ersten und Zweiten Weltkrieges verschärft worden ist, hält bis heute an. Dadurch wird der Dichter immer wieder zur Auseinandersetzung mit Themen der eigenen Entstehungs- und Bedeutungs-bedingungen aufgefordert. Eine solche breite Definition hat jedoch zur Folge, dass eigentlich jedes Gedicht auch poetologisch gelesen werden kann, selbst wenn der Verweis auf die eigene Gemachtheit unmarkiert bleibt. 10 Für die Gedichtauswahl kann deshalb neben der Untersuchung poetologischer Lexik auch die Veröffentlichungsform und die Positionierung des Gedichtes aufschlussreich sein: Wurde das 9 Dass auch Kaléko selbst diese performative Annäherung an Lyrik nicht fern ist, in der der Autor seinen Status zu Gunsten des Lesers verliert, sieht man in ihrer Bewunderung der Schriftstellerin Hilde Domin, mit der sie einen brieflichen Austausch seit 1972 pflegte. In einem Brief vom drückt Kaléko auch ihre Bewunderung für Domins theoretische Arbeit aus (Kaléko, 2012b, S. 1879). Domins wirkungsästhetischer Ansatz betont die Unabgeschlossenheit der Interpretation eines literarischen Textes, da die Bedeutung sich erst im Lesevorgang erschließt. Dieser setzt einen aktiven Rezipienten voraus, der seine individuelle Erfahrungswelt mit einbringt (Sevin, 2003, S. 354). Dieser Aspekt wird auch in Kapitel 5 aufgegriffen. 10 Eva Müller-Zettelmann (2000) unterscheidet in ihrer Untersuchung deutsch- und englischsprachiger poetologischer Gedichte zwischen expliziter und impliziter Metalyrik. Explizit sind Gedichte, die durch den Gebrauch von poetologischen Vokabeln (vgl. Müller-Zettelmann, zitiert in Lamping, 2016, S. 167) markiert sind. Die ausgewählten Gedichte sind insofern explizit, als dass sie Begriffe wie Verfasser, Gedicht, Dichter, Dichtung, Verse oder Werk enthalten. 8

19 Theoretische und methodologische Überlegungen Gedicht isoliert und einzeln veröffentlicht? Wurde das Gedicht anderen Texten voraus- oder nachgestellt? Korrespondiert das Gedicht mit Texten aus der direkten Umgebung oder verweist es auf andere Texte (werkintern und -extern)? Die Frage danach, wo sich ein Text befindet, greift auch Gérard Genette in seinem Buch Paratexte (Genette, 1992) auf. Darin betrachtet er Texte, die gemeinsam mit dem eigentlichen Text erscheinen, aber nicht direkt dazu gehören wie beispielsweise Titel, Widmungen, Vor- und Nachworte. In Bezug auf poetologische Lyrik ist besonders das Konzept des Vorworts relevant, da sich poetologische Gedichte meist vorne, an markierten Stellen im Gedichtband befinden (Lamping, 2016, S. 164), und aufgrund des schriftstrategischen Ortes besonders Gewicht erhalten. Im Falle Mascha Kalékos muss beginnend darauf hingewiesen werden, dass in dieser Arbeit die Gesamtausgabe Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden (Rosenkranz & Prokop, 2012) zitiert wird. 11 Das physische Erscheinungsbild der Gedichtbände und folglich deren Einzelwirkung ist hier ein anderes, auch wenn die Gesamtausgabe sowohl die Coverseiten der Erstausgaben als auch die Peritexte beinhaltet. 12 Mit Blick auf die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbände lässt sich feststellen, dass jedes mit einer Widmung versehen ist, außer Verse für Zeitgenossen (1958), Das himmelgraue Poesie-Album der Mascha Kaléko (1968) und Hat alles seine zwei Schattenseiten (1973), aus denen die gewählten Gedichte stammen. In Verse für Zeitgenossen (1958) wird das Gedicht Quasi ein Januskript noch explizit mit Statt eines Vorworts betitelt, in den beiden anderen fällt diese Kategorisierung von Seiten der Verfasserin jedoch weg. Auch wenn die Gattungsbezeichnung durch die Autorin später entfällt, lässt sich dennoch die illokutorische Wirkung (Genette, 1992, S. 17) nachzeichnen. Diese tritt vor allem in Vorworten in Erscheinung, die eine Absicht oder die 11 Alle Gedichte und Briefzitate stammen aus der Erstausgabe von 2012, welche aus vier Bänden besteht: Band 1 mit Werken (Kaléko, 2012c), Band 2 (Kaléko, 2012a) und 3 sammelt Kalékos Briefe und Briefentwürfe (Kaléko, 2012b) und Band 4 enthält den Kommentar (Rosenkranz, 2012). Herausgegeben und kommentiert wurde der Werk- und Briefbestand von Jutta Rosenkranz, fremdsprachige Briefe und Textstellen übersetzt von Britta Mümmler und Efrat Gal-Ed. Die Verantwortung für die Redaktion und Transkription des Briefbestandes hatte Eva-Maria Prokop. 12 Unter Peritext versteht Genette Paratexte wie Titel und Zwischentitel, die sich direkt an den Text anschließen und sich im Gegensatz zu Epitexten materiell im gleichen Band befinden (Genette, 1992, S. 328). Paratexte wie der verlegerische Peritext sind jedoch in der Gesamtausgabe entfallen. Zusätzlich zu den originalen Peritexten enthält der Werke-Band in der Gesamtausgabe einen editionsphilologischen Kommentar der Herausgeberin mit Information zu Erscheinungsform, Auflage und Inhaltsverzeichnis. Dieser ist typografisch vom Nachdruck des ursprünglichen Gedichtbands abgesetzt. Des Weiteren werden Gedichte nur einmal abgedruckt, auch wenn diese in mehreren Ausgaben veröffentlicht wurden, außer, wenn diese nicht textlich verändert wurden (vgl. Editorische Notiz, Kaléko, 2012c, S. 883f). Haben diese editorischen Eingriffe Konsequenzen für die Interpretation der Gedichtauswahl, wird jedoch darauf eingegangen. 9

20 Theoretische und methodologische Überlegungen auktoriale (oder verlegerische) Interpretation ausdrücken. 13 Durch die Adressierung des Lesers durch den Schriftsteller (beziehungsweise Verleger) wird folglich dessen Blick auf das vorliegende Gedicht und die Annäherung an die nachfolgenden Texte bereits geführt. Der Verfasser nutzt das Vorwort, um den Leser in seinem Sinne zu beeinflussen. Dies kann vom Dichtergedicht (Strobel, 2015, S. 265), also einer Reflexion über den Autor, bis zu manchmal belehrenden, ironischen, kritischen, polemischen Aussagen über das literarische Werk, die verschiedenen Gattungen (der Lyrik), Äußerungen zu Lesern und professionellen Instanzen reichen (Strobel, 2015, S. 265). Jede dieser Stellungnahmen trägt folglich auf seine Weise zur Legitimation der Dichtung bei und kann das Verständnis des Werks und des Autors erweitern, aber auch beeinflussen, wie die Leserrolle geprägt wird. Auf diese Weise repräsentieren die drei gewählten Gedichte auch die drei Dimensionen, die in poetologischen Gedichten reflektiert werden: Autor, Werk, Leser. Betrachtet man poetologische Gedichte, wie Hildebrand (2003) vorschlägt, als Kommentare zur Entstehungs- und Literaturgeschichte, ist es in Kalékos Fall naheliegend zu berücksichtigen, dass es sich hier um eine schreibende Frau handelt, die sich als Teil ihrer poetologischen Reflexionen auch mit genderbasierten Rollenzuschreibungen innerhalb des literarischen Feldes (vgl. Gender und das literarische System in Schößler, 2008) auseinandersetzt. Denn für die Autorin war die wahrnehmungssteuernde Geschlechtlichkeit ebenfalls ein Faktor, mit dem sie sowohl in ihren Gedichten als auch im Leben gespielt hat. 14 Doch Kaléko bezieht sich in ihren poetologischen Überlegungen nicht nur auf sich, sondern auch auf verlegerische Voraussetzungen, literaturgeschichtliche Vorreiter sowie Diskussionen zwischen zeitgenössischen Schriftstellern, zu denen sie sich auch in Briefen und Interviews äußert. Wie meine Analyse zeigen wird, sieht man in diesen ähnlich wie in ihren Gedichten, wie Kaléko poetologisch argumentiert und vorgeht. Für die vorliegende Arbeit ergibt sich auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen folgender Aufbau: In chronologischer Reihenfolge, mit dem ältesten beginnend, stelle ich 13 Genette betont hier eine Abstufung der illokutorischen Funktion von der Information zur Einflussnahme hin, doch diese Untergliederung erscheint heute weniger sinnvoll, da die Nennung des Autorennamens, die Genette als reine Information einschätzt, nicht mehr gegeben ist: Der Autorenname fungiert als Label bzw. Marke und wird dadurch Teil des Marketings und der Inszenierung des Autors (vgl. Künzel, 2007). 14 Wie bereits von anderen herausgearbeitet wurde (vgl. u.a. Becker, 2003; Schöneich, 2013; Swiderski, 2010), inszeniert Kaléko im Frühwerk das lyrische Ich durch neusachlichen Stil und Themenwahl (Selbstständigkeit, Urbanität, Berufstätigkeit, Mobilität, Liebesleben) zu einer Repräsentantin der Neuen Frau, die traditionelle Frauenbilder, aber auch die geschlechtliche Hierarchie des Literaturbetriebs infrage stellt. 10

21 Theoretische und methodologische Überlegungen zuerst die drei ausgewählten Gedichte mit früheren Interpretationsansätzen vor. Im Anschluss daran werden sie hinsichtlich ihrer formal-ästhetischen Gestaltung analysiert und dann in Bezug auf die drei Dimensionen Autor, Werk und Leser interpretiert. 11

22 Theoretische und methodologische Überlegungen 12

23 Quasi ein Januskrip 3 Quasi ein Januskript Nach dessen Erstveröffentlichung leitet Kaléko mit dem vorliegenden Gedicht zwei zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichtbände ein. Damit gehört es zu den wichtigen, immer wieder verwendeten Gedichten der Autorin. Die illokutorische Wirkung des Gedichts als Vorwort lässt das lyrische Ich in die Nähe der Autorin rücken. Auch in der Literatur über Kaléko wurde es häufig aufgegriffen, dort aber vor allem um ihre Dichterpersönlichkeit zu illustrieren. Dabei wurde jedoch vor allem die innere Zerrissenheit, die Teilung des lyrischen Ichs in eine satirische und eine lyrische Seite betont. Die folgende Analyse wird allerdings auf Kalékos Poetologie fokussieren und folglich stärker von der textlichen Gestaltung und deren Interpretations-möglichkeiten ausgehen. STATT EINES VORWORTS: Quasi ein Januskript Wie ein Janus zeigt zuweilen mein Gedicht Seines Verfassers doppeltes Gesicht: Die eine Hälfte des Gedichts ist lyrisch, Die andere hingegen fast satirisch. Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete Zwei Seelen von konträrem Appetite. Was ich auch brau in meinem Dichtertopf, Stets schüttelt Janus einen halben Kopf; Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch, Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch. 13

24 Quasi ein Januskrip Das Gedicht Quasi ein Januskript (Kaléko, 2012c, S. 223) erschien erstmals am in der US-amerikanischen Zeitschrift Aufbau, die als wichtigste Zeitschrift deutschsprachiger Emigranten galt (Rosenkranz, 2012, S. 15). Vier Jahre später leitet es den Gedichtband Verse für Zeitgenossen ein, der 1958 im Rowohlt Verlag, Hamburg, erschienen ist. 15 In diesem Band wurde Kalékos Exillyrik, die zeitlose Themen wie Jahreszeiten, Liebe und Sehnsucht, aber auch Heimat, Integration und Sprache aufgreift, einem breiteren deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Auch der Gedichtband Verse in Dur und Moll, welcher 1967 beim Walter Verlag erschienen ist und Kalékos Erfolgsbücher Das lyrische Stenogrammheft und Verse für Zeitgenossen zusammenführt, 16 beginnt mit Quasi ein Januskript. Dass Kaléko dieses Gedicht mehrmals ihren anderen Gedichten voranstellt, deutet an, welche Wichtigkeit sie diesem Text zuschreibt. Bereits in den 1950er Jahren markiert es poetologische Problemkonstanten in Kalékos Werk, auf die sie auch in späteren Gedichten zurückkommt. Die schriftstrategische Platzierung als Vorwort hat ihre Wirkung nicht verfehlt, denn bereits frühere Interpreten zogen das Gedicht heran, um Kalékos Zerrissenheit zu illustrieren. Wie Nolte (2003) mit Blick auf die Biographie der Schriftstellerin feststellt, lässt sich diese mit der Exilerfahrung in Verbindung bringen: Der Aufenthalt im Exilland wird zu Beginn nur als ein Übel von begrenzter Dauer betrachtet (S. 113). In diesem Zusammenhang wird der redensartliche Januskopf, auf den schon im Titel angespielt wird, laut Nolte zu einem Symbol für den Menschen im Exil. Der Blick der doppelgesichtigen Gottheit richtet sich in der Exilsituation sowohl in die Vergangenheit, die in lyrischen Tönen besungen wird, als auch auf eine vorübergehende Gegenwart im Exilland, die nur satirisch zu beschreiben ist (Nolte, 2003, S. 113). Lange (2002) bezieht sich auf Wellershoff (1982), geht dabei sogar noch einen Schritt weiter und versteht das Gedicht als Ausdruck einer Verunsicherung und Schaffenskrise der Autorin (Lange, 2002, S. 123), die aufgrund der Kulturkonflikte in ihrer Exilsituation und der traumatischen Erfahrungen im NS-Deutschland ihre poetischen Vorbilder in Frage stellt. Wie Wellershoff (1982) ausführt, orientiert sich Kaléko in ihrer frühen Exillyrik nicht mehr an Heine, sondern sucht Orientierung bei Lyrikern der deutschen 15 Der gleichnamige Band erschien bereits 1945 im Schoenhoff Verlag, Massachusetts, doch unterschied sich dieser maßgeblich von der Auswahl und Zusammenstellung der Gedichte in der Neuausgabe. Während die amerikanische Ausgabe von Verse für Zeitgenossen (1945), die zu den wenigen deutschsprachigen Gedichtbänden, die in den USA während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über Exilerfahrung veröffentlicht wurden (Rosenkranz, 2012, S. 49), kritischer gegenüber Kalékos Heimatland ist, enthält die Neuausgabe nur 21 Gedichte aus der vorherigen Ausgabe und über Quasi ein Januskript hinaus 32 neue Gedichte (Zur genauen Zusammenstellung siehe Rosenkranz, 2012, S. 434 und 436f). 16 Neu sind in Verse in Dur und Moll (1967) nur zwei Gedichte, Für Einzelgänger (Kaléko, 2012c, S. 297) und La Condition Humaine (S. 297). 14

25 Quasi ein Januskrip Klassik: Deren Dichtung könne noch durch eine einheitliche Sprache eine Totalitätserfahrung vermitteln, nach der die Autorin sich sehne und die sich im Pathos innerliche[r] Ergriffenheit und Ernsthaftigkeit (Wellershoff, 1982, S. 211) widerspiegle. Während frühere Auslegungen auf Kalékos Exilsituation und deren Konsequenzen für die Veränderungen in ihrer Lyrik (vgl. Lange, 2002, S. 121) basieren, werde ich vom Text ausgehend das vorliegende Gedicht breiter poetologisch lesen. Die Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen literarischen Tradition durchaus provoziert von Flucht- und Exilerfahrung bezieht sich dann allgemeiner auf die eigenen Entstehungs- und Bedeutungsbedingungen (Strobel, 2015, S. 268), die in ihrem Gedicht verhandelt werden. 3.1 Gegensätze und Integration Auffällig bei der formal-ästhetischen Gestaltung sind die beiden Überschriften, wobei die erste in Kapitälchen geschrieben ist und dem Gedicht eine Textsorte zuordnet, und die zweite den Titel des Gedichts darstellt. Darunter folgt das zehnzeilige Gedicht, welches auf den ersten Blick aus nur einer Strophe besteht; der Gedankenstrich im sechsten Vers deutet jedoch eine Teilung an. Die überwiegend in Zeilenstil geschriebenen Verse sind paarweise gereimt, metrisch überwiegt ein fünfhebiger Jambus. Einleitend vergleicht das lyrische Ich, welches sich als Schriftsteller zu erkennen gibt, sein Gedicht mit dem doppelgesichtigen Janus. Die beiden Hälften werden anschließend mit den Adjektiven lyrisch und satirisch charakterisiert. In der Mitte ruft das lyrische Ich aus, dass es von zwei Seelen bewohnt wird, die unterschiedlichen Appetit haben. Im kulinarischen Bild verbleibend klagt das lyrische Ich, dass kein Gericht/Gedicht den inneren Janus zufriedenstellen kann. Abschließend wird als Grund dafür genannt, dass die Vergangenheit uns lyrisch und die Gegenwart satirisch stimmt. Im Titel fällt sogleich die Wortschöpfung Januskript auf. Dieses Kofferwort (Portmanteau) entsteht durch die Kontamination der Substantive Janus und Manuskript, der Textvorlage für den Setzer. Janus, der Gott des Anfangs und des Endes aus der römischen Mythologie, gilt als Hüter über das Tor (Waszink, 1965). Als solcher steht er buchstäblich an der Schwelle (vgl. Genette, 1992, S. 10) zum Gedichtband und wacht so über den Eingang des Buches. Programmatisch stimmt die Überschrift Quasi ein Januskript den Leser auf den Tonfall des Gedichts ein, welches wiederum den nachfolgenden Gedichten als Vorwort dient. Durch das Stilmittel des Wörtlichnehmens in Kombination mit einer Sprachmischung, bei der das 15

26 Quasi ein Januskrip lateinische Adverb quasi nicht hochsprachlich, sondern humoristisch-umgangssprachlich verwendet wird, erzeugt der Titel einen komischen Effekt. So wird schon in der Überschrift und damit im Eingang zum Gedichtband, welcher Kalékos Rückkehr nach Deutschland markiert einer der doppelgesichtigen Ausdrücke eingeführt, die die Aufmerksamkeit des Lesers lenken und ein genaues Hinsehen und Hinhören provozieren. 17 Bereits im ersten Vers wird ein Bezug zum Titel und dessen Wortspiel ( Januskript ) hergestellt. Denn das Gedicht beginnt mit einem Vergleich, in dem eine Parallele zwischen Janus Doppelgesichtigkeit und der Dichtung gezogen wird, welche auch die Gespaltenheit des lyrischen Ichs widerspiegelt. In den nächsten beiden Versen stehen die beiden Hälften im Zentrum: während die eine als lyrisch beschrieben wird, ist die andere satirisch. Der vierte Vers schließt damit, dass die satirische Hälfte nur fast eine solche ist, ohne jedoch zu zeigen, was dieser fehlt, um vollständig satirisch zu sein. Durch diese Offenheit entsteht ein Spielraum, eine semantische Leerstelle, die die Aufmerksamkeit und Aktivität des Rezipienten steigert, sodass auch hier eine Reflexion zur eigenen Haltung der Dichtung gegenüber angeregt wird. Zwar fordert das Gedicht den Leser nicht direkt zu einer Stellungnahme auf, doch dadurch, dass das lyrische Ich im siebten Vers erklärt, dass alles, egal was auch im Dichtertopfe gebraut wird, beides in sich vereint und dennoch nur der Hälfte schmeckt, wird der Leser implizit aufgefordert, sich seines eigenen Geschmacks bewusst zu werden. Auch die Verwendung des Reimpaares lyrisch satirisch legt die Vermutung nahe, dass sie sich auf künstlerische, literarische Ausdrucksformen beziehen, die als konträr zu einander angesehen werden. Während lyrisch mit der Gattung Lyrik in Verbindung gebracht werden kann, schwingt in Satire nicht nur die Versform, sondern auch die ungereimte Form moderner kabarettistischer Kleinkunst mit. Dies sieht man auch im Enjambement, welches sich über die ersten beiden Verse zieht; wirkt doch der Anfang des Gedichts eher wie ein gesprochener Text, im Gegensatz zu dem sonst dominierenden Zeilenstil des Gedichts. Der Eindruck der Mündlichkeit wird allerdings durch den Reim Gedicht-Gesicht sowie die syntaktische Stellung des Genitivattributs (vgl. das doppelte Gesicht seines Verfassers) wieder gebrochen. 17 Gerade bei Ironie ist der Tonfall, der sich meist besser hören als lesen lässt, besonders entscheidend. Durch diese Stimmgebung, die sich individuell unterscheiden kann, ist der Leser besonders wichtig, der in seiner Lesart auch über die Betonung und eine mögliche ironische Klangfärbung entscheidet. 16

27 Quasi ein Januskrip Bereits der Anfang kann deshalb als eine Illustration der inneren Gespaltenheit und gleichzeitig einer Integration von Gegensätzlichem verstanden werden. Auch im Kompositum Dichtertopf wird scheinbar Gegensätzliches miteinander verbunden, denn der kulinarische Bildvorrat fügt sich mit dem dichterischen zusammen. Formal zeigt sich diese Verbindung im phonetischen Minimalpaar Gedicht Gericht. Gleichzeitig schafft die lautliche Ähnlichkeit der Reimwörter Gedicht Gesicht eine Verbindung zur Janus- Metaphorik, die aus der antiken Mythologie stammt. Die Koch-Metaphorik evoziert ebenfalls die Nähe zur antiken Satire-Tradition und deren Sprachgebrauch. Denn der kulinarische Bildvorrat war in der Antike üblich, 18 um auf das eigene Dichten zu verweisen (Auerochs, 2007). Durch diese Referenz werden die satirischen Eigenschaften der Gedichte, die dem Vorwort im Gedichtband folgen, hervorgehoben. Dadurch wird der Leser bereits darauf eingestellt, dass sich das Spektrum der nun folgenden gereimten Texte über einen spielerisch-witzigen bis aggressiv-pathetischen Register (Auerochs, 2007, S. 678) erstreckt. 19 Durch die kulinarische Metaphorik spielt das Gedicht jedoch nicht nur auf etablierte Tropen innerhalb einer Gattung an. Das phonetische Minimalpaar Kopf Topf im siebten und achten Vers, verbindet auch Geistiges ( Kopf ) und Profanes ( Topf ), sodass sich das lyrische Ich in die Rolle einer Köchin hineinschreibt. Die sinnbildliche Küche, die traditionellerweise eine Domäne der Frau ist, wird zum Ort, an der Lyriker ihre Gedichte herstellen. Durch die antike Bildsprache der Gattung Satire wird diese jedoch in einen geschlechtsneutraleren Ort verwandelt, an dem sowohl Männer als auch Frauen gleichberechtigt ihre künstlerische Schaffenskraft verwirklichen können. 20 Diese Integration und Aktualisierung von etablierten Tropen, die über eine gattungsmäßige Einordnung hinausreichen, können folglich auch als Kommentar zur schriftstellerischen Tätigkeit als Frau gedeutet werden. 18 Durch den Vergleich mit beispielsweise einer Obstschale gefüllt mit verschiedenen Früchten wurde das Allerlei der Texte oder das Vermischte versinnbildlicht, um die thematische und stilistische Vielfalt zu betonen (Auerochs, 2007, S. 677). 19 Kalékos Lektor beim Rowohlt Verlag, Wolfgang Weyrauch, argumentierte in diesem Zusammenhang für die Streichung der Gedichte Bittgesuch an eine Bombe (Kaléko, 2012c, S. 189) und Höre Teutschland (Kaléko, 2012c, S ), in denen der Hass auf die Nationalsozialisten deutlich zum Ausdruck kommt, um die deutschen Leser in der Nachkriegszeit nicht zu verprellen (Rosenkranz, 2012, S. 80). 20 Dass dies allerdings zu Kalékos Lebzeiten keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, zeigt Kurt Tucholskys ambivalente Anerkennung, der Kalékos Erfolg als satirische Lyrikerin mit Verwunderung verfolgt:»eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!«(tucholsky zitiert in Prokop, 2018). Auch die Teilnahme von ausschließlich männlichen Schriftstellern beim Symposium Lyrik heute 1959 deutet darauf hin, dass als Meisterköche des literarischen Feldes vor allem Männer galten. 17

28 Quasi ein Januskrip Die Zusammenführung von vermeintlichen Gegensätzen lässt sich auch in der formalästhetischen Gestaltung weiter nachzeichnen. Denn das Gedicht, welches aus zehn Versen besteht, kann sowohl als einstrophig als auch als zweistrophig angesehen werden. Versteht man den Gedankenstrich im sechsten Vers als Teilung des Gedichts in zwei Quintette, hält das Reimpaar im fünften und sechsten Vers (Miete Appetite) die beiden Strophen wieder zusammen. Bei genauerer Betrachtung des Versmaßes deutet auch die Verteilung von betonten und unbetonten Silben auf eine Zweiteilung hin, die sich im integrierten Goethe- Zitat vollzieht, auf das später noch genauer eingegangen wird. Denn im ersten Quintett fällt die unregelmäßige Verteilung der betonten und unbetonten Silben auf. Übertragen auf das Bild des Janus, dessen Körper zwei Gesichter und damit auch zwei Persönlichkeiten beherbergt, stünden dann die ersten fünf Verse für den einen und die zweiten für den anderen Charakter des Gedichts. Auf diese Weise versinnbildlicht das Gedicht auch die Janusfigur mit ihren beiden Gesichtshälften. Während der Anfang stärker von satirischen und lyrischen Eigenschaften des Gedichts handelt, wird diese in der Mitte auf das lyrische Ich übertragen und unterbricht so die Reflexion über Lyrik. Erst in den letzten beiden Versen werden die beiden Adjektive lyrisch/satirisch wieder mit Janus Blickrichtung in Verbindung gebracht, der durch seine Doppelgesichtigkeit sowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwart blicken kann. Hier wird der Blick in die Vergangenheit mit dem Lyrischen assoziiert, der Blick auf die Gegenwart mit dem Satirischen. Die Wirkung von Dichtung auf den Leser ist damit abhängig von den unterschiedlichen Geschmacksvorstellungen des inneren Janus ( konträrem Appetite ), der im Leser wie im Autor gleichermaßen wohnt ( uns ). Integrativ wirkt auch die relative Regelmäßigkeit in der metrischen Gestaltung. Denn immer zwei Verse, die sich paarweise reimen, folgen zwei Versen mit der gleichen Anzahl Hebungen: im ersten und zweiten Vers drei, im dritten und vierten Vers vier. Damit erinnern Metrum und Reim an die Lindenschmidtstrophe der Volkslieddichtung, wie sie bereits im 16. Jahrhundert populär war. Doch folgt der Reim in Quasi ein Januskript nicht genau dem 18

29 Quasi ein Januskrip dieser Strophenform zugehörigem Schema. 21 Festzuhalten bleibt jedoch die Nähe zum Volkslied, die diese Zeilen evozieren, und damit die breite Leserschaft als Zielgruppe. Diese Adressierung hat auch Konsequenzen für das Verständnis der Begriffe lyrisch und satirisch, die dann nicht mehr als Gattungsbezeichnungen, sondern eher als Andeutung einer Stimmung verstanden werden können: Betont das Lyrische die Emotionalität, die Stärke von Gefühlen und den Blick nach Innen, hebt das Satirische eher Sachlichkeit, ironische Distanz und den Blick nach Außen hervor. Unterstützt wird diese Vermutung von den letzten beiden Versen, die die Begriffe in Verbindung mit der zeitlichen Dimension bringen, in der Vergangenes nostalgisch, sehnsüchtig betrachtet werden kann und Gegenwärtiges dagegen kritisch und spöttisch. 3.2 Verstand versus Gefühl? Bereits der Vergleich in den beiden ersten Versen verweist nicht nur auf die vermeintliche Zweiteilung der Dichtung, sondern auch auf die Gespaltenheit des lyrischen Ichs. Denn die Doppelgesichtigkeit des Janus repräsentiert auch die unterschiedlichen Stimmungslagen des lyrischen Ichs. Dabei spielt lyrisch auf die Betonung von Gefühlen an, sodass das Satirische zum Vertreter des Verstandes wird, der Gefühlen auch entgegenstehen kann. Die Zerrissenheit wird so eine innere, psychologische, die auf den Widerstreit zwischen Gefühl und Verstand alludiert. Diesen Zwiespalt, der sich auch literaturgeschichtlich in der Aufklärung als Verfechter der Vernunft und dem Sturm und Drang als Wiederentdeckung der Emotion wiederfinden lässt, versuchen Schriftsteller der Klassik wie Goethe zu überwinden. Wenn im Gedicht auf diesen Konflikt angespielt wird, indem sowohl Goethe zitiert als auch das Begriffspaar lyrisch-satirisch mehrdeutig konnotiert wird, rückt neben Literaturgeschichte auch das Menschsein als solches ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn ähnlich wie das Gedicht, welches durch das Druckbild zu einem Körper aus Sprache wird, erscheint auch der Mensch bewohnt von zwei Seelen, die sich durch ihre emotionalen und rationalen Eigenschaften auszeichnen. 22 Abhängig vom Gegenstand, der betrachtet wird (Vergangenheit 21 Die Lindenschmidt- oder Kreuzliedstrophe gehört zu den Fünfzeilern. Diese aus der Volkslieddichtung bekannte Strophe besteht aus einem Reimpaar in vierhebigen Jamben mit männlichen Kadenzen und zwei gereimten Versen aus dreihebigen Jamben mit weiblichen Kadenzen, die einen Vers mit vierhebigen Jamben umschließen. Dieser mittlere Vers nimmt entweder den Reim der ersten Vierheber auf oder bleibt [ ] ungereimt. (Felsner, Helbig, & Manz, 2012, S. 86). In der Volkslieddichtung liegt hier ebenso die freie Senkungsfüllung vor, die man auch bei Kalékos Gedicht in den ersten fünf Versen findet. 22 In der Tradition eines kartesischen Dualismus, der im Gedicht aufgrund der Formulierung im fünften Vers durchscheint, nimmt Kaléko das Bild des Janus, in dem Gefühl und Verstand miteinander ringen, auch in einem 19