Nr. 48 - 1. Dezember 2016 Nach dem Attentat auf die Zeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 hat Emmanuel Todd ein Buch über die Tage danach geschrieben. Todd, sein Buch und die gewaltige Reaktion, die es ausgelöst hat, erzählen die Geschichte eines gespaltenen Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Emmanuel Todd hat mit dem Finger auf sein Land gezeigt, dafür erhielt er eine Faust ins Gesicht. Nun steht er da, mit schwarzen Schatten unter den Augen, in seiner Wohnung in einem gutbürgerlichen Quartier von Paris – in der es aussieht, als habe eine Bombe eingeschlagen. Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen Ende April, sagt der 65-jährige Soziologe kurz nach Beginn unseres Gesprächs, werde er erstmals in seinem Leben nicht an die Urne gehen. «Das ist keine Empfehlung an andere! Aber ich selber muss es tun – um meinen inneren Frieden zu finden.» Angefangen hat alles am 7. Januar 2015, als Dschihadisten die Pariser Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» sowie später einen jüdischen Supermarkt überfallen und dabei sechzehn Menschen töten. «Charlie Hebdo» hatte wiederholt den islamischen Propheten Mohammed karikiert – etwa auf allen vieren mit einem leuchtenden Stern als Anus. Am Sonntag nach den Anschlägen erlebt Frankreich den grössten bisher registrierten Demonstrationsaufmarsch in seiner Geschichte, drei bis vier Millionen Menschen stehen auf der Strasse. Aus Solidarität mit «Charlie Hebdo», für die Meinungsäusserungsfreiheit und gegen den Terror. Ihr Ruf: «Je suis Charlie.» Vier Monate später bringt Todd ein Buch in die Läden, das Frankreich zum Beben bringt. Der Titel: «Qui est Charlie?» Wer ist Charlie? Wie fast alle französischen Linken war Todd stets ein Patriot. Und er war stets ein «Assimilationist», der von EinwanderInnen verlangte, die «französische Kultur» zu übernehmen. Umso erstaunlicher seine Anklage: Frankreich habe im Januar einen «totalitären Flash» erlebt. Die Kundgebungen seien kein Zeichen zugunsten der Meinungsäusserungsfreiheit gewesen. Sondern eine Warnung an Frankreichs MuslimInnen. Die MuslimInnen seien nicht nur misstrauisch dazu aufgefordert worden, sich zum Recht auf Gotteslästerung zu bekennen. Nein, man habe sogar von ihnen verlangt, die Beleidigung ihres Propheten gut zu finden. So wie vom französischen Schauspieler Jamel Debbouze, der am Fernsehen zu erklären versuchte, dass er trotz des Rechts auf Blasphemie, das er gegen alles verteidigen würde, seine Mühe mit den Karikaturen habe – worauf der Moderator abermals nachhakte. Wenn alteingesessene Franzosen wiederholt den Propheten einer diskriminierten Gruppe verhöhnten, schreibt Todd, sei das Anstachelung zu religiösem Hass. Mitten in der Hysterie vom Januar 2015 habe er sich jedoch nicht einmal mehr getraut, dies zu sagen. Der Soziologe stützt seine These mit Statistiken und Karten. Gemäss Todd gibt es zwei Frankreich: zum einen das Frankreich, das auf gleichheitlichen Familienstrukturen basiert und in dem der Katholizismus bereits im 18. Jahrhundert zusammengebrochen ist. Das ist das Frankreich, das 1789 für die Revolution kämpfte und bis heute an die Gleichheit glaubt. Es liegt im «Pariser Becken» und entlang des Mittelmeers. Zum anderen das Frankreich, das auf hierarchischen Familienstrukturen fusst und in dem der Katholizismus erst in den sechziger Jahren zusammengebrochen ist. Das ist das Frankreich, das 1789 gegen die Revolution kämpfte und bis heute an die Ungleichheit glaubt. Es liegt in der Peripherie: rund um das Elsass, die Bretagne sowie von Genf hinunter zu den Pyrenäen. Das ist das Frankreich des «Zombie-Katholizismus». Das Frankreich der Revolution war einst die Heimat der KommunistInnen und des Parti Socialiste (PS). Doch in jüngster Zeit, so Todd, sei der PS von der Oberschicht der «zombie-katholischen» Regionen gekapert worden, die den Zusammenbruch ihrer Religion durch eine inegalitäre Ideologie kompensierten. Seither betreibe der PS erstens eine radikalliberale Wirtschaftspolitik, unter der sowohl die alten Arbeitermilieus als auch die Kinder der einstigen nordafrikanischen EinwandererInnen litten, die in den heruntergekommenen Banlieues leben. Zweitens sei der PS islamfeindlich geworden. Und nun kommt es: Todd zeigt mit seinen Statistiken, dass es vor allem die Oberschicht dieser «zombie-katholischen» Regionen war, die nach den Attentaten demonstrierte. Jenes Frankreich, wie Todd polemisch schreibt, das nicht nur 1789 gegen die Revolution kämpfte, sondern in der Dreyfus-Affäre 1894 auf der Seite des Antisemitismus stand und im Zweiten Weltkrieg hinter dem autoritären französischen Vichy-Regime, das mit Nazideutschland kollaborierte. Nicht anwesend waren laut Todd dagegen die alten Arbeitermilieus im Frankreich der Revolution. Angesichts ihrer prekären wirtschaftlichen Situation haben sie sich immer mehr von der Linken abgewendet und wählen nun den rechtsextremen Front National (FN) von Marine Le Pen. Ebenso wenig anwesend seien die muslimischen Franzosen der Banlieues gewesen, die neben der wirtschaftlichen Ausgrenzung auch die wachsende Fremdenfeindlichkeit zu ertragen hätten. In den Banlieues wachse unter diesen Bedingungen wiederum der Antisemitismus, so Todd, vor dem er sich als Jude immer mehr fürchte. Die heftigen Reaktionen die auf das Buch folgen bestätigen Todd zumindest in einem Punkt: «Charlie» hat die Welt in Gut und Böse unterteilt. Und der Versuch, da ein paar Grautöne hineinzubringen, wird nicht toleriert. Am Erscheinungstag des Buchs reagiert Premierminister Manuel Valls höchstpersönlich mit einem Beitrag in der Tageszeitung «Le Monde». Darin wirft er Todd «Betrug» vor, unter anderem weil dieser glauben machen wolle, die Kundgebungen hätten sich gegen den Islam gerichtet. Neben einzelnen positiven Reaktionen, etwa des Philosophen Alain Badiou, jagt nun eine Kritik die andere. Todd habe «die Kontrolle verloren», er habe eine «ethische Monstrosität» begangen. Der beim Attentat verletzte Journalist Philippe Lançon vergleicht den Soziologen gar mit einer «Krähe, die sich auf den Kadaverfeldern niederlässt, sobald die Schlacht vorbei ist». WOZ: Herr Todd, wie haben Sie die Reaktionen auf Ihr Buch
erlebt? Sie argumentieren sehr deterministisch: Kommt jemand aus der Oberschicht in Frankreichs Peripherie, ist er automatisch ein Feind der Gleichheit und islamophob. Warum sind Sie so sicher, dass familiäre und religiöse Strukturen, die weiter
als die Französische Revolution zurückreichen, die Politik bis heute bestimmen? Bei der Präsidentschaftswahl 2012
haben Sie für François Hollande geworben, sprachen gar vom «revolutionären Hollandismus». Sie trauten ihm also zu, dass er sich von seiner Herkunft löst? Viele fürchten sich vor dem Aufstieg des FN. Nun kommen Sie und sagen, das eigentliche Problem sei der PS. Sie wollten doch auch ein wenig provozieren … Der ehemalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy von den Républicains und die traditionelle Rechte, für die er steht, sind aber doch viel liberaler und xenophober als der PS … Auch Sie sind ein Assimilationist. Sie waren etwa 1989 für das Kopftuchverbot in Frankreichs Schulen. Sie landeten 2002 mit Ihrem Buch «Weltmacht USA. Ein
Nachruf» einen Bestseller. Wie erklären Sie sich die Wahl von Donald Trump? Trump erhielt aber auch viele Stimmen von Reichen. Täuscht der Eindruck, oder freuen Sie sich darüber? Ich bitte Sie, sein Sexismus, sein Rassismus etwa gegenüber Latinos und Latinas – darüber sehen Sie einfach hinweg?! Trump vertritt doch keine progressive Wirtschaftspolitik, eine solche würde sich um die Schwächeren
sorgen – weltweit. Er propagiert die Politik, die die Rechtsnationalen, inklusive Faschisten, seit über hundert Jahren wollen: den Kampf für das eigene Volk gegen alle anderen – samt Steuersenkungen für die Reichen. Letztlich jedoch Trump? Hier liegt auch das Irritierende an Ihrem Buch: Es ist ein lautes Plädoyer gegen die Fremdenfeindlichkeit, gleichzeitig verurteilen Sie darin jedoch alles, was aus Europa kommt, und plädieren für ein Zurück zum
Nationalstaat. Das ist zu simpel. Erstens war es kein Deutscher, sondern der französische Sozialist Jacques Delors, der als EU-Kommissionspräsident den Binnenmarkt und den Euro vorantrieb. Zweitens lässt sich die heutige globalisierte Wirtschaft nur auf globaler – oder zumindest europäischer – Ebene unter
demokratische Kontrolle bringen. Was unterscheidet Sie vom FN? Der Aufstieg des Front National in den ehemals links beherrschten Regionen Frankreichs zeigt, dass nicht alle traditionellen Linken dieselben Vorbehalte gegenüber dem FN haben wie Todd. Fünf Monate vor der Präsidentschaftswahl versucht Marine Le Pen zudem immer stärker, auch die WählerInnen der Républicains für sich zu gewinnen. Neben dem Versprechen, die Steuern zu senken, tut sie dies vor allem mit einem neuen Auftritt: Auf ihrem Wahlplakat ist ihr Nachname, der noch immer an ihren offen rassistischen und antisemitischen Vater erinnert, verschwunden. «Marine – Présidente» heisst es da lediglich, geschmückt mit einer blauen Rose ohne Dornen. Einige der Républicains haben den FN im Wettbewerb um WählerInnenstimmen inzwischen rechts überholt, auch wenn sie mit Fillon nun nicht ihren rechtesten Kandidaten ins Präsidentschaftsrennen schicken. Anders als der FN vertritt allerdings gerade Fillon eine knallharte, ultraliberale Wirtschaftspolitik, mit der er auf Wirtschaftskreise zielt. Und dann ist da noch der PS unter Hollande, der – wie Todd sagt – sich kaum noch von den Républicains unterscheidet. Dasselbe gilt für den Sozialisten Emmanuel Macron, Hollandes ehemaligen Wirtschaftsminister und Investmentbanker, der kürzlich seine Kandidatur bekannt gab. Und sonst? Sieht Todd irgendeine Hoffnung innerhalb der Linken? «Nein», sagt der Enkel des bekannten Kommunisten Paul Nizan, der 1940 an der Front gegen Deutschland starb. «Es sieht derzeit so aus, als erwache der politische Unmut vor allem auf der politischen Rechten, nicht auf der Linken.» Ende Januar will auch die Linke in einer Primärwahl ihre Kandidatin oder ihren Kandidaten küren. Die Lage ist verworren: Bei Redaktionsschluss war noch unklar, ob François Hollande nochmals antritt, gleichzeitig haben sich die Aushängeschilder des linken PS-Flügels wie Arnaud Montebourg bereits in Stellung gebracht. Der Linksaussenpolitiker Jean-Luc Mélenchon hat seinerseits wie Macron die Primärwahlen übersprungen und ist bereits ins Rennen gestiegen. Im Hintergrund ist Jacques Delors’ Tochter Martine Aubry (PS) ihrerseits daran, Sozialistinnen, Kommunisten, Linksalternative und Grüne zusammenzubringen. Sie ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2022. |